Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
sie ihre runden Froschaugen weit aufriss. Hauptamtlich dem NKWD dienend, war sie im Nebenberuf Künstlerin – sie malte Bilder in Öl und vereinte in sich die Werte des NKWD mit dem Talent einer bedeutenden Stalin-Porträtistin.
    Ihr riesiges Arbeitszimmer, so groß wie unser Schlafsaal, also wie drei Zellen, sah aus wie ein richtiges Maler-Atelier. Zwei stabile Staffeleien, ein Beistelltisch mit Farben und ein Krug voller Pinsel waren die wichtigsten Gegenstände in Krötes offiziellem Reich. Mitten im Raum stand zwischen den beiden Staffeleien ein gewaltiger Schreibtisch mit zwei Sesseln, und über Krötes »Thron« hing als Schwarz-Weiß-Lithografie das Porträt des Vaters aller unserer Einrichtungen, des NKWD-VolkskommissarsLawrenti Berija. Ihm gegenüber prangte in einem altertümlichen vergoldeten Rahmen der Führer höchstselbst, Jossif Wissarionowitsch Stalin, in Uniformjacke, die Pfeife in der Hand, und blickte mit rätselhaftem Lächeln seinen Landsmann Lawrenti an. Die beiden Staffeleien trugen zwei riesige Leinwände mit dem Haupt- und Lebensthema der Künstlerin Kröte: Stalin und die Kinder. Im Atelier roch es nach Ölfarben, nach Terpentin und gutem Tabak. Sie pflegte lange dünne Papirossy zu rauchen. Die Untergebenen raunten, das sei die Lieblingsmarke des Generalissimus, und unsere Leiterin als hochgestellte Person und seine Porträtistin habe sie sich vollauf verdient. Abnehmer ihrer Gemälde waren hohe Militärs, die deswegen im Auto angefahren kamen.
    Trotz ihres Talents und ihrer Bedeutsamkeit konnte keiner im Kinderheim diese Frau leiden, weder Jung noch Alt, weder Bruder noch Schwester, wie unsere Geschirrspülerin Mascha Kuhfuß sagte. Selbst die Wächter ließen kein gutes Haar an ihr. Sie blickte von ihrer Herrschaftshöhe auf alle herab wie auf tief unten wimmelnde Käfer, die sie jederzeit zerquetschen oder ins Nirgendwo schicken konnte. In Einrichtungen wie der unseren zeichneten sich die weiblichen Wesen, ganz besonders die Ranghöheren, nicht durch Kinderliebe und Güte aus.
    Krötes rechte Hand war der Erzieher der Alten, der den Spitznamen Geierauge führte. Ehemals Oberaufseher in einer Kolontai 3 , war er zu uns versetzt worden, um die Reihen zu stärken, vielleicht auch, weil er sich etwashatte zuschulden kommen lassen. Er brüstete sich mit seiner Vergangenheit und kratzte sich bei der Erinnerung an seine frühere Arbeit die behaarten Hände. Offensichtlich hatte er sich in der Kolonie auf Handgreiflichkeiten spezialisiert. »Was machen wir mit ihm … damit ihm ein für alle Mal die Lust vergeht …«, sagte er, wenn er einen straffälligen Jungen am Schlafittchen in den Karzer schleifte.
    Seine nächsten Gehilfen waren drei Wächter – Feuerklotz, Arsch mit Ohren und einfach Holzkopf, ein übler Spitzel und Schwätzer, der im Kinderheim die Rolle des Begleitwärters spielte. Die ersten beiden waren außerdem noch Schließer und schalteten uns abends das Licht ab mit dem Befehl »Schlafen«, worauf sie alle Türen zum Treppenhaus verschlossen. Nach Meinung der Geschirrspülerin, die vor niemandem Angst hatte, waren alle diese Typen feige Hunde, die sich vor der Front drückten und deshalb in einem Kinderheim untergekrochen waren.
    Erzieherin der Jüngsten, der Krümel, war ein ausladendes Weib, das von den Wächtern Speckwanne genannt wurde. Diese Tante war in ihren Ausdrücken nicht zimperlich. Wenn ihr zum Beispiel ein Dreikäsehoch in die Quere kam, schnauzte sie: »Aus dem Weg, du Kuckucksei, sonst quetsch ich dich platt.« Für Mascha Kuhfuß war sie eine dahergelaufene Nutte. Und deren Saufgelage mit den Wächtern kommentierte sie noch schärfer: »Die und Erzieherin, das ist, verzeih mir Gott, eine fettärschige Matratze. Die will hier einen Puff aufmachen.«
    Wichtig für uns waren noch zwei Tanten. Die eine, dieWäscheverwalterin, von der wir Anziehsachen, Handtücher, Seife und Bettzeug bekamen, wurde sogar von den Wächtern Rostrüssel genannt, denn ihr abstoßendes Gesicht war obendrein von Pockennarben verunstaltet. Sie trug eine Militäruniform, doch ohne Schulterklappen. An ihrer ausgeblichenen Feldbluse steckte der Rotbannerorden. Erzählungen zufolge hatte sie während des Bürgerkriegs in der sibirischen Taiga heldenhaft als Partisanin gekämpft und sich dort den Rost eingefangen, das heißt, die Pocken. Mit uns redete die Partisanin kaum, steckte beim Wäschewechsel nur den Kopf aus ihrer Kellerkammer, fixierte, das Mundstück einer »Box« 4 zwischen den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher