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Wer Wind sät

Wer Wind sät

Titel: Wer Wind sät
Autoren: Nele Neuhaus
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Prolog
    Sie rannte die menschenleere Straße entlang, so schnell sie rennen konnte. Am nachtschwarzen Himmel explodierten erste verfrühte Silvesterraketen. Wenn es ihr doch nur gelingen würde, den Park zu erreichen, die feiernden Menschenmassen, in denen sie untertauchen konnte! Sie kannte die Gegend nicht, hatte völlig die Orientierung verloren. Die Schritte ihrer Verfolger hallten von den hohen Häusermauern wider. Sie waren ihr dicht auf den Fersen, trieben sie immer weiter von den größeren Straßen weg, weg von Taxis, U-Bahn und Menschen. Wenn sie jetzt stolperte, war alles aus.
    Die Todesangst schnürte ihr die Luft ab, das Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Lange konnte sie das Tempo nicht mehr durchhalten. Da! Endlich! Zwischen den endlosen Fassaden der hohen Häuser gähnte ein düsterer Spalt. Sie bog in vollem Lauf in die schmale Gasse ein, aber ihre Erleichterung dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis sie begriff, dass sie den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatte. Vor ihr erhob sich eine fensterlose glatte Mauer. Sie saß in der Falle! Das Blut rauschte in ihren Ohren, ihr Keuchen war das einzige Geräusch in der plötzlichen Stille. Sie duckte sich hinter ein paar stinkende Mülltonnen, presste ihr Gesicht an die raue, feuchte Hausmauer und schloss die Augen in der verzweifelten Hoffnung, die Männer würden sie nicht sehen und weitergehen.
    Â»Da ist sie!«, rief jemand mit halblauter Stimme. »Jetzt haben wir sie.«
    Ein Scheinwerfer flammte auf, sie hob einen Arm und blinzelte geblendet in das grelle Licht. Ihre Gedanken rasten. Sollte sie um Hilfe schreien?
    Â»Hier kommt sie nicht raus«, sagte ein anderer.
    Schritte auf dem Pflaster. Die Männer kamen näher, langsam jetzt, ohne Eile. Ihr Körper schmerzte vor Angst. Sie ballte die schweißfeuchten Hände zu Fäusten, ihre Fingernägel gruben sich schmerzhaft ins Fleisch.
    Und dann sah sie ihn ! Er trat in das Licht und blickte auf sie herab. Für einen winzigen erleichterten Moment durchzuckte sie die wahnsinnige Hoffnung, er sei gekommen, um ihr zu helfen.
    Â»Bitte!«, flüsterte sie heiser und streckte die Hand nach ihm aus. »Ich kann alles erklären, ich …«
    Â»Zu spät«, schnitt er ihr das Wort ab. Sie las kalten Zorn und Verachtung in seinen Augen. Der letzte Funken Hoffnung in ihrem Innern verglühte und zerfiel zu Asche, so, wie die schöne weiße Villa am Seeufer.
    Â»Bitte, geh nicht!« Ihre Stimme klang schrill. Sie wollte zu ihm kriechen, ihn um Verzeihung anbetteln, ihm schwören, dass sie alles, alles für ihn tun würde, aber er wandte sich ab und verschwand aus ihrem Blickfeld, ließ sie allein mit den Männern, von denen sie keine Gnade zu erwarten hatte. Die Panik schlug wie eine schwarze Welle über ihr zusammen. Sie blickte sich wild um. Nein! Nein, sie wollte nicht sterben! Nicht in dieser dunklen, dreckigen Gasse, die nach Pisse und Müll stank!
    Mit einer Kraft, die ihr die Angst verlieh, wehrte sie sich, sie trat und schlug um sich, kämpfte verbissen ihren allerletzten Kampf. Doch sie hatte keine Chance, die Männer drückten sie auf den Boden und bogen ihre Arme brutal nach hinten. Dann spürte sie den Stich an ihrem Arm. Ihre Muskeln wurden schlaff, die Gasse zerfloss vor ihren Augen, während man ihr die Kleider vom Leib zerrte, bis sie nackt und hilflos dalag. Sie fühlte sich davongetragen, erhaschte einen letzten Blick auf den schmalen Streifen nachtschwarzen Himmels zwischen den hohen Mauern, sah die blinkenden Sterne. Dann stürzte sie und fiel und fiel in endlose, schwarze Tiefe. Für einen kurzen, herrlichen Moment fühlte sie sich schwerelos, der rasende Fall raubte ihr den Atem, es wurde dunkel, und sie war ein klein bisschen verwundert, dass Sterben so leicht war.
    Sie fuhr in die Höhe. Das Herz raste in ihrer Brust, und sie brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass sie nur geträumt hatte. Dieser Traum verfolgte sie seit Monaten, aber nie war er so real gewesen, und nie hatte sie ihn bis zu Ende geträumt. Zitternd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper und wartete, bis sich ihre verkrampften Muskeln entspannten und die Kälte aus ihrem Körper wich. Das Licht der Straßenlaterne fiel durch das vergitterte Fenster. Wie lange war sie hier in Sicherheit? Sie ließ sich nach hinten sinken, presste ihr Gesicht ins Kopfkissen und begann
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