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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Autoren: Aufbau
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wurden wieder in die Decken gepackt und zusammen mit den verschnürten Kisten in einen Lastwagen gesetzt. In der Abenddämmerung fuhren wir los und erreichten am nächsten Tag gegen Mittag eine Eisenbahnstation. Ich weiß noch, dass die Männer sehr behutsam mit den Kisten umgingen.
    Auf der Station, vielleicht auch erst im Zug, hörte ich, dass sich in den Kisten die Zeichnungen und Berechnungen für ein neues Kampfflugzeug befanden und dass unser oberster Onkel der Ingenieur und Schöpfer diesesFlugzeugs war. Er hieß Sergej, und sein Nachname war Jeroschewski oder Jaroschewski.
    Aber warum hatte er gerade uns, Zöglinge eines staatlichen Kinderheims, und nicht ganz normale Kinder mit dem Flugzeug aus dem Blockade-Leningrad herausgebracht? Merkwürdig. Warum hat mich dieser gütige Gulliver aus allen anderen Liliputanern ausgewählt und mir sogar eigenhändig den Kopf verbunden? Weil ich ihm mit einem Auge zulächelte? Oder weil ich ein Kreuzchen um den Hals trug?
    Der Zug brachte uns nach Kuibyschew, wo wir einem Kinderheim des NKWD * übergeben wurden. Dort nahmen mir die Erzieher das Kreuz weg, das Letzte, was mir von meiner Matka Bronia geblieben war.
Das staatliche Haus
    Die Bilder vergangener Jahre, die uns einst alltäglich und uninteressant vorkamen, bohren sich mit der Zeit immer stärker in unser Gedächtnis und lassen alle möglichen unverhofften Einzelheiten aufblitzen.
    In den bösen Zeiten, als wegen der beiden schnauzbärtigen Führer im europäischen Teil Russlands Millionen Erwachsene mörderisch aufeinander einschlugen, war bei uns im fernen Sibirien alles friedlich. Wir lebten, wie man so sagt, recht und schlecht in dem mustergültigen Kinderheim des NKWD, verborgen im Dorf Tschornyje Lutschi am Ufer des Irtysch, aber wenigstens im Warmen und unter dem Dach eines stabilen dreistöckigen Ziegelgebäudes, das freilich früher ein Durchgangsgefängnisgewesen und, nachdem es für die erwachsene Bevölkerung nicht mehr ausreichte, in ein Kinderheim umgewandelt worden war. Bei den Leuten hieß es »Kinderknast«. An den Türen der Schlafsäle waren noch die Spuren der Futterluken zu sehen, und einige Fenster waren nach wie vor vergittert. Aber das störte uns nicht, im Gegenteil, zwischen Rahmen und Gitter konnten wir dies und das verstecken. Der Tagesablauf war streng reglementiert, fast wie im Gefängnis: Wecken, Morgengymnastik, Fressewaschen, Frühstück, Unterricht oder Arbeit, Mittagessen, Schlafen, Gehirnwäsche, Abendessen, Klogang, wieder Schlafen, so wie es der letzte Kneiferträger der Sowjetunion, NKWD-Marschall Lawrenti Berija, angeordnet hatte. Aber dafür hatte jeder ein eigenes Bett mit Laken, und an den roten Feiertagen und zu Stalins Geburtstag, am 21. Dezember, bekamen wir zum Frühstück einen Riegel Brot mit Butter.
    Bei uns lief alles wie am Schnürchen. Die Kinder der abgeurteilten Eltern hießen Zöglinge, die Aufseher und Aufseherinnen hießen Erzieher. Die Wächter mussten wir mit »Genosse Wachhabender« ansprechen, und der Karzer hatte den schönen Namen Isolator. Über allen prangte, wie der Stern an der Soldatenmütze, die Leiterin des Heims, genannt die Kröte, ein wahrer Drachen: »Von hinten greulich, von vorn abscheulich.«
    Offiziell gliederten sich die Heimkinder in vier Gruppen: die Ältesten, die Zweitältesten, die Mittleren und die Jüngsten. Der Altersunterschied zwischen den Gruppen betrug zwei bis drei Jahre. Inoffiziell wurden die Ältesten Alte genannt, die Zweitältesten Dachse. Beide Gruppen wohnten im dritten Stock in mehreren Räumen.Wir, die Mittleren im Vorschulalter zwischen sechs und acht, hießen Knirpse und wohnten in zwei Zimmern im zweiten Stock. Uns gegenüber, auf der anderen Seite der Treppe, waren, ebenfalls in zwei Räumen, die Kleinsten unter sechs Jahren untergebracht, die wir Krümel nannten. Ihre Wohnhälfte wurde mit einem Vorhängeschloss zugesperrt, und wir sahen sie nur im Speisesaal oder im Hof, und auch das nur durch die vergitterten Fenster. An den Zimmertüren waren unsere Spitznamen eingeritzt: Alte, Dachse, Knirpse, Krümel.
    In der linken Hälfte des ersten Stocks lagen der Speisesaal, von uns Fressschuppen oder Futterscheune genannt, und die Küche. In der rechten Hälfte, genau unter uns, befand sich die große Aula, die nach Dzierżyński * benannt war. An der Stirnwand hing ein Porträt des Volkskommissars. Unter dem Bild stand der lange Präsidiumstisch, mit rotem Tuch bedeckt, und davor waren die Bankreihen. Dieser Saal
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