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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Autoren: Aufbau
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war fast immer leer. Nur an Feiertagen wurden wir hineingetrieben und mussten zu Ehren der Festlichkeit und der angereisten Natschalniks in Reih und Glied antreten. Hinter der Wand mit dem ziegenbärtigen Feliks Dzierżyński befand sich noch ein wichtiges Zimmer, dort hielten die Erzieher und Leitungskräfte des Kinderheims ihre Versammlungen ab. Keiner von uns war je drin, aber wir wussten, dass die Bewacher an Sonn- und Feiertagen hinter dem Rücken ihres legendären Feliks feierten und sich volllaufen ließen. An den Seitenwänden der Aula hingen zwei riesige gerahmte Bilder – »Stalin in der Region Turuchansk« und »Der junge Führer bei Bakuer Arbeitern« –, in unserer Sprache: »Diebsversammlung« oder »Machtgekungel«.
    Auf dem Weg zum Speisesaal stand zwischen Erdgeschoss und erstem Stock auf einem Sperrholzsockel, der auf dunkelroten Marmor getrimmt war, eine weiße Gipsbüste von Väterchen Lenin, umstellt von Blumentöpfen, bei uns nur »Glatzkopf im Garten« genannt. Kurz vor dem Tag des Sieges wurde er plötzlich bronzefarben angestrichen, und sofort benannten unsere Alten ihn um in »Bronzemann auf Heimaturlaub«.
    Das Erdgeschoss gehörte ganz und gar der Verwaltung und ihren Unterabteilungen. Rechts, am Haupteingang, befand sich die Pförtnerloge samt einer Kammer, wo die Wächter die von Spaziergängen oder von der Arbeit zurückkommenden Heiminsassen filzten. Doch wir hatten uns an die Durchsuchungen längst gewöhnt und schmuggelten die von draußen mitgebrachten Kostbarkeiten geschickt an der Wache vorbei, indem wir sie von Hand zu Hand weitergaben.
    Hinter der Filzkammer war in einer ehemaligen Zelle die Desinfektion, wo die Neueingänge ein paar Tage in Quarantäne bleiben mussten und bearbeitet wurden, bevor sie in die oberen Zimmer durften.
    In den nächsten beiden Zellen war die Krankenabteilung, eine der schlimmsten Einrichtungen des Kinderheims, die wir Dunkelkammer oder Kaputtka nannten. Kaum einer, der dorthin geriet, kam auf seine Etage zurück. Das Kommando führte eine Feldscherin, genannt die Schreckliche Kapa. Ihre Gehilfin, eine taubstumme Krankenpflegerin, von deren bestialischem Gestank die Fliegen krepierten, machte nicht sauber, sondern verschmierte nur den Dreck. Im Sommer mussten die Zöglinge auf den Feldern des Heims Unkraut jäten und stopftenvor Hunger ungewaschenes Gemüse in sich hinein, wonach sie bei Kapa reihenweise an Darmkrankheiten starben. Als es einmal überdurchschnittlich viele Kinder hinwegraffte, kam eine Kommission mit Schulterklappen angefahren und donnerte unsere Bonzen zusammen. Nach Abfahrt der Schulterklappenträger sahen wir, wie unsere Heimleiterin unter unflätigen Weiberflüchen ihre fetten Fäuste der Feldscherin in die primitive Visage knallte.
    Am Ende des Korridors lagen die beiden Karzer, die sogenannten Isolatoren. Sie sahen noch genauso aus, wie die Häftlinge sie erlebt hatten, nichts war verändert worden. In dem einen Karzer hatte jemand vor Urzeiten eine seltsame Inschrift in die Wand gekratzt. »Wehsolator«. Unter den Knirpsen, den Dachsen und sogar den Alten wurde gemunkelt, dass in diesen ehemaligen Gefängniszellen die Geister der hier zu Tode gequälten Häftlinge umgingen, dass sie nachts aus den Zellen kämen und, vorbei am Glatzkopf, der ja auch ein ehemaliger Knastbruder war, die Treppe zu uns in den zweiten und dritten Stock heraufstiegen. Verhüte Gott, dass man ihnen in die Hände fiel. Sie würden einen von dieser Welt in die jenseitige schleppen. Viele Male hörten wir nachts aus dem Treppenhaus langgezogenes Stöhnen und merkwürdiges Wimmern. Aber das war vielleicht nur die Zugluft.
Die Kröte und ihr Gesinde
    Die zweite, die linke Hälfte im Erdgeschoss gehörte der Kröte und ihren Gehilfen. Sie wissen ja, die Leiterin unseres NKWD-Kinderheims wurde Kröte genannt, und zwar nicht nur von den Zöglingen, den Volksfeinden, sondern auch von ihren Untergebenen – hinter ihrem Rücken. Dieser treffende Spitzname hatte ihren Vor- und Vatersnamen verdrängt, und wenn ich mich dennoch zu erinnern versuche, wie sie angeredet wurde, finde ich in meinem Gedächtnis nur das Bild einer großen, fetten, schnurrbärtigen Frau mit kurzen dicken armen, mehreren Kinnwülsten bei fehlendem Hals und vorquellenden Froschaugen. Sie war stets sumpfgrün gekleidet, in Seide oder Wolle, je nach Jahreszeit. Noch eine Besonderheit fällt mir ein – sie konnte mit beiden Beinen gleichzeitig drohend auf einen Schuldigen zuspringen, wobei
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