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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Autoren: Aufbau
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KNIRPSENZIMMER

    Bin nicht Mamas Sohn,
    bin nicht Papas Sohn,
    bin ein Tannenkind,
    runtergeschüttelt hat mich
    der Wind.
    Lied der Waisenkinder

Ballade vom Holzflugzeug
    Ich kann mich nicht erinnern, wie ich kurz vor dem Krieg ins Kinderheim kam. Mein Patenonkel Janek muss mich dort abgegeben haben. Oder sie haben mich ihm weggenommen. Ich erinnere mich auch nicht, wie der Krieg begann. Ich weiß nur, dass wir Krümel, wie die größeren Jungen uns nannten, plötzlich alle Krieg spielten. Mich, der ich polnisch zischelte und kaum Russisch sprach, und noch zwei Jungen, einen kleinen rothaarigen Tataren und einen großäugigen, schwarzhaarigen Krümel, Schwarzi genannt, erklärten alle anderen Jungen zu Deutschen. Sie griffen uns jeden Tag an, und wir ergaben uns. Danach mussten wir wie Feinde mit erhobenen Händen durch die Zimmer gehen, wurden anschließend einzeln erschossen und gezwungen, eine Ewigkeit auf dem Boden zu liegen. Ich mochte das Spiel nicht.
    Ich erinnere mich, dass die Portionen zum Frühstück, Mittag und Abendbrot immer kleiner wurden. Als aber Frost einsetzte und Schnee fiel, hörten wir auf, Krieg zu spielen.
    Dann geschah etwas Merkwürdiges. Im Winter kamen zwei riesige Onkel, gleichsam zwei Gulliver in Steppjacke und Ohrenklappenmütze, energischen Schrittsins Kinderheim und suchten in aller Eile unter den Jungen neun besonders ausgemergelte vier- bis fünfjährige Krümel aus. Sie stellten uns in einer Reihe auf, musterten uns eingehend und befahlen den Erziehern, uns so warm wie irgend möglich anzuziehen. Die Erzieher steckten uns rasch in bunt zusammengewürfelte, viel zu große Sachen und gaben jedem eine schwere Steppdecke. Dann wurden wir die Treppe hinunter auf die Straße geführt, wo vor dem Haus ein großer brummender Bus stand. In den hoben die beiden Onkel uns einen nach dem andern hinein. Im Bus waren noch etliche Erwachsene, die auch Steppjacken und Ohrenklappenmützen trugen. Auf die ersten beiden Sitze wurden sieben Jungen gesetzt, ich und Schielauge kamen als Nachhut zwischen zwei Onkel auf den Rücksitz. Rechts von mir saß der oberste Gulliver. Er kommandierte, und alle gehorchten ihm.
    Der Winter war in jenem Jahr früh gekommen, mit viel Schnee und großer Kälte. Die ganze Stadt versank im Schnee. An den Straßenrändern türmte er sich zu Bergen, die dreimal so groß waren wie ich. Wohin der Bus fuhr, wusste keiner von uns. Einer der Jungen mit dem Spitznamen Stinker fragte, wohin man uns bringen würde.
    »Ins Flugzeug«, antwortete der oberste Onkel.
    »Ins Flugzeug? Toll! Dann fliegen wir in der Luft!«, freuten wir uns.
    »Ja, natürlich fliegt ihr! Über den Ladogasee.« Wir fuhren lange durch die Stadt, langsam, ohne irgendwo zu halten, nicht einmal, als die Sirenen aufjaulten und Artilleriebeschuss einsetzte. Es dunkelte bereits,als wir aus der Stadt heraus waren und auf ein riesiges Schneefeld kamen, das nur von unserer Straße durchschnitten wurde. Plötzlich wurden die Männer unruhig – das Dröhnen eines Flugzeugs war zu hören. Der Fahrer gab Gas, und wir wurden durchgerüttelt und -geschüttelt, besonders auf dem hinteren Sitz. Die Straße unter dem Schnee war sehr holprig. Das Dröhnen kam näher.
    »Eine Messerschmitt«, sagte der Fahrer. »Die wird uns beharken.«
    »Schnell die Kinder auf den Boden, unter die Sitze!«, befahl mein Nachbar, und kaum waren wir unter den Sitzen, fegte eine MG-Garbe über den Bus. Wir werden die Schüsse kaum gehört haben bei dem Motorengedröhn, und nur an den Löchern im Dach sahen wir, dass wir beschossen worden waren.
    Der erste Angriff forderte noch keine Opfer. Der Fahrer holte das Letzte aus dem Motor raus, um das verdammte Feld schneller hinter sich zu bringen. Die Messerschmitt kam zurück und griff uns im Tiefflug an. Ein Onkel, der neben dem Fahrer stand, fiel hin, und ein Junge begann schrecklich zu schreien. Ich schob den Kopf instinktiv unter dem Sitz hervor, da flog die Messerschmitt plötzlich zum dritten Mal von der Seite heran und feuerte von links eine Garbe auf die Fenster. Glassplitter prasselten auf uns herab. Einer bohrte sich in meine Augenbraue über der Nasenwurzel. Mein Nachbar hob mich sofort auf seine Knie und zog den Splitter heraus. Ich schluckte Blut und verlor das Bewusstsein.
    Als ich zu mir kam, lag ich in einer Holzhütte auf der Bank. Durchs Fenster war ein großes weißes Feld zusehen, von Wald gesäumt. Ich guckte mit einem Auge in die Welt, das andere war zusammen mit einem
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