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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Autoren: Aufbau
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Kolonie. Die Jungs standen Schlange, um sich von mir stechen zu lassen. Brennholz brauchte ich nicht mehr zu schleppen, meine Hände mussten geschont werden.
    Meine Fertigkeit, die Profile der Führer zu biegen, fand auch hier Anklang. Der Pachan prahlte vor seinen Kumpanen mit mir, rief sie zusammen.
    »Na los, Schatten, mach den Glatzkopf!«
    Oder: »Bieg den Schnauz!«
    Das kriegte ich im Nu hin. Damals war ich schon so versiert, dass ich die Führer mit geschlossenen Augen in Draht biegen konnte.
    Für den Staat arbeitete ich auch – ich strich Möbel, die von den Bewohnern der Kolonie gefertigt wurden, mit Lack und Farbe. Die Möbel waren für die interne Nutzung des NKWD bestimmt.
    Im Dezember 1951 holte ich mir eine Erkältung und hustete verdächtig, und da in meiner Akte die Notiz »lungenschwach« stand, wurde ich isoliert. Am vierten oder fünften Tag weckte mich der Krankenbruder, übrigens ein Este von einem Einzelgehöft, sagte, ich würde abgeholt, half mir beim Anziehen, führte mich hinaus undübergab mich dem Wächter. Der ließ sich meinen Namen sagen, verglich ihn mit einem Papier und hieß mich, vor ihm herzugehen – zum Büro der Kolonie-Verwaltung im Herrenhaus. Wir durchschritten das Vestibül und blieben im Korridor vor der ersten Tür stehen. Der Wächter nahm Haltung an und klopfte respektvoll an die prachtvolle Kassettentür. Er wurde aufgefordert einzutreten, genauer, mich hineinzubringen. Wir betraten das ehemalige Arbeitszimmer des Barons, dessen Wände mit dunklem Holz getäfelt und mit geschnitzten Kassetten geschmückt waren. Die Decke war ebenfalls aus dunklem Holz und wurde von geschnitzten Balken in Vierecke unterteilt. Selbstvergessen bestaunte ich diesen Reichtum. Da ertönte die knarrende Stimme des Natschalniks.
    »Was kuckst du, Junge?«, fragte er. »Gefällt es dir?«
    Ich löste den Blick von der Decke und sah vor mir einen Offizier mit hellblauen Schulterklappen stehen; seine Mütze mit dem hellblauen Band lag auf dem grünen Tuch der Schreibtischplatte. Die Schulterklappen hatten einen Stern. Major, dachte ich, was mag er von mir wollen? Ich bin doch für ihn ein Niemand. Der Wertuchai * hinter mir salutierte und ging hinaus, ließ mich allein mit dem Offizier, der hinter dem mächtigen dunklen Schreibtisch des Barons stand.
    Er setzte sich, legte einen Aktendeckel vor sich hin und blickte mich mit farblosen Augen an.
    »Name?«, fragte er.
    »Kotschergin.«
    »Vorname?«
    »Eduard.«
    »Vatersname?«
    »Stepanowitsch.«
    »An wen von deinen Angehörigen erinnerst du dich?«
    »An meine Matka.«
    »Deine Mutter also?«
    »Ja.«
    »Weißt du noch, wie sie heißt?«
    »Matka Bronia.«
    »Bronisława, ja?«
    »Ja.«
    »An wen noch?«
    »Meinen Bruder Felja.«
    »Das heißt, Feliks, ja?«
    »Ja.«
    »Und noch an wen?«
    Ich schwieg. An wen erinnerte ich mich noch? An meinen Patenonkel Janek und meine russischen Tanten Dunja und Nastja aus meiner frühesten Kindheit oder an den bärtigen altgläubigen Popen, der mich schmerzhaft in den Hintern gezwickt hatte. Und an meinen Nennbruder Mitja, den die Schwindsucht aufgefressen hatte. Die Erinnerungen an sie wirbelten durch meinen Kopf, aber ich behielt sie für mich. Ich wusste aus Erfahrung – je weniger man den Polypen sagte, desto besser.
    »Na, du schweigst? Keine Erinnerung mehr?«
    »Nein.«
    »Sagt dir dieser Name was – Odynec?«
    Odynec. Sonderbares Wort. Der mir verhasste Buchstabe »y«. Ich hatte lange gebraucht, ihn aussprechen zu lernen, als ich mir mühsam das Russische aneignete. Nein, an den Namen konnte ich mich nicht erinnern.
    »Weißt du noch den Vatersnamen deiner Mutter?«
    Ich versuchte mich an meine polnische Kindheit zu erinnern, aber der Vatersname meiner Matka Bronia fiel mir nicht ein.
    »Und dein Großvater mütterlicherseits – weißt du noch, wie der hieß?«
    In einem Nebelschwaden meines Gedächtnisses erschienen vor mir ein sonniger Frühlingstag, ein Bahnhof, ein Zug, ich im Kleinkindalter in den Armen meiner Mutter, sie stand auf dem Waggontrittbrett und übergab mich einer alten Tante im hellen Kleid, die nannte mich Enkelchen. Aber ein Großvater war nicht da. Seltsam, dass dieses ferne Bild aus der Anfangszeit meines irdischen Daseins wieder aufgetaucht war.
    Aber wie meine polnische Oma hieß, fiel mir nicht ein. Viel später erfuhr ich von meiner Matka, dass mein Opa Feliks geheißen hatte, mit Vatersnamen Donatowitsch, und dass mein Bruder Feliks, im Irrenhaus an Lungenentzündung
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