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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Autoren: Aufbau
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verstorben, nach ihm benannt worden war. Der Opa, ein Ingenieur, war Anfang der dreißiger Jahre im Zusammenhang mit dem Fall der »Industriepartei« * als Schädling verhaftet und erschossen worden. Also hatte er in Kiew, wohin meine Matka Bronia mit mir Dreijährigem gefahren war, um mich ihrer Mutter, meiner Oma Jadwiga, zu zeigen, nicht auf dem Bahnhof sein können.
    »Kannst du noch polnisch sprechen?«, fragte der Major.
    Welch überraschende Frage!
    »Ich verstehe es bestimmt, habe es aber schon seit der Vorkriegszeit nicht mehr gesprochen«, antwortete ich unsicher.
    Vielleicht verstand ich es auch gar nicht mehr? Es war doch so viel Zeit vergangen. Weshalb löcherte der mich so? Hatte ich was ausgefressen? Was hatte er mit meiner Matka, meiner Oma, meinem Opa? Wollte er mich irgendwohin verlegen? Den Fragebogen aufhübschen?
    Plötzlich stand der Major hinterm Schreibtisch auf, griff nach seiner Kartentasche, zog ein Papier heraus und legte es auf den Schreibtisch. Und dann machte er mir eine umwerfende Mitteilung.
    »Also, Eduard Kotschergin-Odynec, wir haben deine Mutter gefunden. In den nächsten Tagen bringen wir dich zu ihr nach Leningrad.«
    Ich erstarrte nach diesen unverhofften Worten, dann stand ich stramm, was ich noch nie getan hatte. Und taumelte, mir schwindelte der Kopf, fast wäre ich zu Boden gekracht.
    »Du torkelst ja, halt!«, schrie er mich an.
    Ich machte einen Schritt rückwärts und sank auf einen Stuhl an der Wand. Vor meinen Augen drehte sich alles. Ich sah nichts, begriff nichts – das konnte nicht sein, das war ja wie im Märchen!
    Du hast Schwein, du hast Schwein, hämmerte es in meinem Kopf. Wir brin-gen dich hin, wir brin-gen dich hin …
    Als ich zu mir kam, hing ich in den Armen des Wertuchai. Er zog mich weg von dem Major durchs Vestibül des Baronschlosses zurück in die Quarantänezelle. Meine Erkältung machte sich bemerkbar. Ich phantasierte ganze zwei Tage bei vierzig Grad Fieber.
    Zehn Tage vor Neujahr verlegten sie mich wieder in meinen »Schuppen« und erklärten mich für gesund. Eigentumbesaß ich begreiflicherweise nicht, also brauchte ich für die Abreise auch nicht zu packen. Der oberste Aufseher teilte mit, dass es zwei Wochen dauern werde, bis alle meine Papiere bestätigt seien, dann würde ich nach Leningrad gebracht. Bis dahin musste ich noch Pflichten bei den Kumpels erfüllen, vor allem bei Tolja dem Wolf, dem Pachan des mittleren »Schuppens«, musste den Schnauzbart fertig tätowieren, den ich vor der Krankheit angefangen hatte. Außerdem musste ich noch sechs Kartenspiele machen, zwei für jede Abteilung. Also hatte ich wenig Schlaf und viel Anspannung.
    Als ich in meine neuerliche Ungewissheit abreiste, war ich sauber – hatte bei niemandem Schulden – und hinterließ zur Erinnerung an mich das Porträt des Vaters aller Völker auf der Brust des Pachans Tolja der Wolf, der übrigens ein meisterlicher Taschendieb war.
Der Urizki-Platz
    Unser tschuchonzischer * Zug erreichte Piter im Dunkeln. Mein Bewacher mit dem Spitznamen Trübes Auge, eine Kreuzung aus einem lettischen Schützen und einer estnischen Revolutionärin, rüttelte mich zwanzig Minuten vor der Ankunft wach. Die Zeit reichte nur noch für die Notdurft und ein feldmarschmäßiges Frühstück. Noch ganz verschlafen, begriff ich nicht recht, wie mir geschah, wohin man mich brachte. Erst als der Zug hielt und der Schaffner die Waggontür in die kalte Dunkelheit eines Januarmorgens öffnete, wusste ich, dass dies die echte Wirklichkeit war. Nun würde sich womöglich meinganzes Leben verändern, der kleine Bahnhofs- und Eisenbahndieb, der Tätowierer aus der Strafkolonie sollte, wie meine Mitkolonisten sich ausdrückten, ein hundertprozentiger Frajer werden. Kurz, mein Leben würde eine völlig neue Richtung nehmen. Trübes Auge, der mich dem NKWD von Piter überstellen sollte, packte mit seinen knochigen Fingern meine Hand und zerrte mich über den Bahnsteig und den Maidan 12 bis zur Straßenbahn, ohne den Griff zu lockern. »Ich lass dich erst los, wenn ich dich gegen Unterschrift bei den Leningrader Natschalniks auf dem Urizki-Platz und bei deiner Matka Bronia, wie du sie nennst, abgeliefert habe«, erklärte er mir seine Strenge.
    Er begriff nicht, dass ich nach den zwölf Jahren in staatlichen Kinderheimen, in Milizgewahrsam, mit Übernachtungen in Heu und Stroh in Gesellschaft von Feldratten, in Zügen und Transporten aller Art, in der Obhut von Koloniewächtern mit exotischen
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