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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Autoren: Aufbau
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erblickt zu haben.
    Die Belehrung des Hauptmanns war kurz. Er ermahnte mich, niemandem, niemals und nirgendwo zu erzählen, wo ich gewesen war und woher meine Mutter kam, sonst würde es uns beiden schlecht ergehen, und sie würden uns überall finden. Er kritzelte etwas auf ein Blatt Papier und reichte es einem untergeordneten Greifer, der durch eine Tür herein- und zu einer anderen hinaushuschte. Dann stand er von seinem Schreibtisch auf, stützte die Ellbogen auf seine Barriere, zeigte mit der Hand auf eine sich öffnende Tür und sagte zu meiner Überraschung: »Da ist deine Mutter.«
    Aus der riesigen Eichentür rechts vom Bild des Schnauzbarts trat eine Frau – sehr dünn und sehr schön, mit einer Kappe aus weizenblondem Haar, das zu einem Kranz um den Kopf gelegt war. Vorsichtig kam sie quer durch den Raum gegen das Licht auf mich zu. Sie sah mich mit großen, erstaunten graublauen Augen an und sagte etwas, das ich nicht verstand. Ihre Sprache kam mir bekannt vor, ich hatte sie als kleines Kind gesprochen,sie aber inzwischen vergessen – ja, ich hatte sie tatsächlich vergessen. Verwirrt stand ich von der Bank mit dem Wappen auf, versteckte die Hände hinterm rücken und erstarrte.
    »Was soll das Gezischel? Quatsch Gaunerjargon mit ihm, das versteht er besser«, sagte der blitzsaubere Hauptmann, der die Szene von seinem Platz hinter der Barriere aus beobachtete, zu meiner Mutter.
    Warum fährt er meine Matka so an, der Scheißkerl, dachte ich und kam langsam zu mir.
    Meine Mutter zuckte zusammen, blieb vor ihm stehen, als müsse sie sich an etwas erinnern, richtete ihr weizenblondes Haar und fragte höflich, aber nun in unserer Sprache: »Krieg ich von Ihnen denn auch Flebben für ihn, Bürger Natschalnik?«
    Der Hauptmann verschluckte sich und antwortete wütend: »Ich bin kein Bürger Natschalnik, ich bin der Genosse Hauptmann. Und Sie kriegen alles, was Ihnen für ihn zusteht.«
    Genosse, Genosse – bei uns sind alle Genossen. Mir fiel ein, wie ich zu Beginn des Krieges in der Stadt mit dem seltsamen Mongolennamen Kui-By-Schew zu einem Arztverhör ins Irrenhaus gebracht wurde – dort befand sich mein Bruder Felja. Zwei schnauzbärtige Sanitäter, die aussahen wie alle unsere Führer, schleiften einen runzligen kleinen Alten mit Bärtchen an den Armen über den Flur, und der Alte kreischte mit schwacher Kieksstimme: »Seid ihr Menschen oder Genossen?« Sie schüttelten ihn aus wie einen Staublappen und schleiften ihn weiter.
    Als alle Flebben ausgestellt waren und wir die Stabsstubeverließen, warf ich noch einen Blick auf die Bilder unserer Führer und dachte, dass der Eiserne Feliks mir nun doch meine Mutter wiedergegeben hatte; Felja aber hatte er nicht gerettet. Felja war im Winter zweiundvierzig in ebenjenem Irrenhaus in Kuibyschew an einer Lungenentzündung gestorben.
    Ich erinnere mich nicht in allen Einzelheiten, wie wir das Greiferreich verließen. Ich weiß nur noch, dass wir den riesigen verschneiten Urizki-Platz diagonal überquerten und direkt auf die große Säule in der Mitte mit dem Engelsmann und auf den steifgefrorenen Zarenpalast mit den tanzenden Säulen und der vereisten Wache auf dem Dach zugingen.
    Ohne uns abgesprochen zu haben, liefen meine Mutter und ich sehr schnell, wir wollten wohl beide so rasch wie möglich weg von dem prunkvollen NKWD-Sitz. Erst vor dem Sockel der Engelssäule wurden wir langsamer. Ich schaute zum ersten Mal zurück. Von weitem sah der Torbogen des gelben Stabsgebäudes aus wie der Paraderock des obersten Militärstaatsanwalts aus einem Film oder einem Traum, hübsch bestickt mit Reliefsymbolen von Krieg und Gewalt. Anstelle der Mütze thronte über der Jacke ein Gespann aus sechs Rappen mit einem Begleiter zu jeder Seite. Die Pferde zogen ein schwarzes Gefährt mit einer stehenden geflügelten Frau darin, die das »doppelköpfige Huhn« in der Hand hielt. Was hatten diese Gestalten im Sowjetreich nur zu bedeuten? Vielleicht war die Frau auf dem altertümlichen Wagen das Zeichen für die staatsanwaltliche Macht? Und auf dem Tor oben waren noch zwei Geflügelte und segneten mit Kränzen Schwerter und Äxte – ein starkes Stück!
    Während ich noch all dies Unglaubliche bestaunte, war meine Mutter schon weitergelaufen in Richtung Admiralität. Ich holte sie ein und hörte sie in ihrer sanften Sprache etwas vor sich hin murmeln. Was, verstand ich erst nicht. Aber dann doch: Sie betete zu ihren vertrauten polnischen Göttern.
    Die Straßenbahnhaltestelle
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