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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
Autoren: Aufbau
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Spitznamen wie Arsch mit Ohren oder Feuerklotz die Nase voll hatte. Er begriff nicht, wie froh ich war, dass man meine Matka nach langer Gefängnis- und Lagerhaft in Piter ausfindig gemacht hatte (sie hatte zehn Jahre abgebrummt, wegen Spionage nach Paragraph 58). Ich hätte mich im Gedränge des riesigen Bahnhofs oder erst recht in der Straßenbahn ohne weiteres von ihm losreißen können, das wäre für mich, den erfahrenen Eisenbahndieb, ein Leichtes gewesen, aber mich interessierte die unbekannte künftige Freiheit. Was im Kriminellenmilieu aus mir geworden wäre, wusste ich.
    Mein Bewacher und ich fuhren lange mit einer Straßenbahn voller Arbeitsleute aus der Nacht in den Morgen und stiegen in kaltem blauem Licht auf einer ungeheuer breiten Straße vor einem riesigen winterweißen Park aus. Durch die Bäume schimmerte die silhouette eines langgestreckten Barackenbaus; er erinnerte an die estnische Ostseefestung, in der sich meine Besserungskolonie befand, nur war er weit prächtiger und imposanter. Mitten in dieser Festung stand ein hoher, säulenverzierter Turm – vermutlich für ganz besondere Wächter.
    »Was ist das für eine Festung mitten in der Stadt?«, fragte ich meinen Begleiter.
    »Die Admiralität. Deshalb das Schiff oben auf der Spitze, siehst du?«, antwortete er und stieß mich vorwärts, zum Gehsteig. Kurz darauf erreichten wir die Ecke einer Straße, auf der ebenfalls Straßenbahnen fuhren und viele Menschen vorübereilten. Vor meinen umherirrenden Augen öffnete sich ein gewaltiger schneebedeckter leerer Raum, umringt von prächtigen Gebäuden mit unzähligen Säulen. In der Mitte dieses weißen Feldes, auf dem eine ganze Armee von NKWD-Leuten Platz gehabt hätte, ragte ein hoher Pfahl auf. Obendrauf stand ein dunkler geflügelter Engel mit einem Kreuz in der Hand. Was soll das denn?, dachte ich, während ich zum ersten Mal im Leben bei grüner Ampel eine große Straße überquerte. In diesem Land der Sowjetsterne ein Kirchenengel oben auf einem Turm?
    Hinter dem Pfahl erstreckte sich ein Palastgebäude, Säule auf Säule, von Säulen gestützt. Und auf dem Dach Figuren kostümierter Aufseher, wie die Wachsoldatenim Lager auf ihren Türmen. Wir gingen auf der rechten Seite dieses riesigen Platzes, an der hohen gelben Mauer eines halbrunden Gebäudes entlang, das vor langer Zeit für Hünen-Krieger gebaut worden sein mochte. Trübes Auge nahm sofort Haltung an, verfiel in Marschtritt und zerrte mich, der ich staunend diese Pracht betrachtete, mit sich. Als er das Haus, auf das wir zugingen, als Obersten Stab bezeichnete, wurde mir ganz mau: Ob ich mich in diesem Stab wohl wieder vor Greifern oder gar vor einem Staatsanwalt für meine zahlreichen Fluchten aus Kinderheimen und Besserungskolonien rechtfertigen musste? Ich fröstelte in meiner abgewetzten volkseigenen Lagerjacke auf diesem riesigen, menschenleeren Platz, der von den palastartigen Häusern der Führer und Staatsanwälte umstellt war.
    Nach den Begriffen von uns Heimkindern war ein Staatsanwalt der oberste Natschalnik über die Menschen, wie ein Zar, nur dass die Zaren ins Märchenreich verbannt waren, die Staatsanwälte dagegen noch existierten. Die Kriminellen nennen sie »Hauswarte«. Vielleicht wegen dieser Häuser, in denen sie sitzen und kommandieren?
    Trübes Auge hielt die ganze Zeit mit seinen knochigen Griffeln mein rechtes Handgelenk umklammert. Als wir an dem Riesen-Torbogen vorbeikamen, der geschickt die beiden gleichen halbrunden Häuser verband, entdeckte ich riesige Stuckornamente an den Mauern. Waffen, Rüstungen, Helme. Ich bestaunte die gigantischen, erdrückenden Ausmaße des Ganzen. Zugleich kam mir der Gedanke, dass sie eine gute Tätowiervorlage für meine kriminelle Klientel abgeben würden.Hinter dem Tor, vor einer riesigen Tür mit NKWD-Wappen, ließ der Kurat 13 meine Hand los, um die Mappe mit dem Bericht über mich aus seiner deutschen Beute-Aktentasche zu nehmen. Die Tür war so schwer, dass er sie mit beiden Händen öffnen und die Aktentasche in den Schnee stellen musste. Hinter der ersten war eine zweite Tür, davor stand eine Wache, zwei NKWD-Hünen in pieksauberer, nagelneuer Uniform, mit vollkommen gleichem gesicht und dem typischen Schnauzbart – als wären sie nach ein- und derselben Schablone gestanzt. Mein Natschalnik nahm merkwürdigerweise seine estnisch-lettische Pelzmütze ab, strich sich die schütteren Haarreste glatt und reichte den beiden die Mappe mit den Papieren. Die Wachleute
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