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Schwindel

Titel: Schwindel
Autoren: Kristina Dunker
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dich!«
    Ich höre das gar nicht. Ich sprühe die Scheiben ein. Das ist meine Aufgabe, das Einzige, woran ich denke. Was der da draußen
     sagt, betrifft mich nicht. Es stimmt sowieso nicht. Mirko ist nur ein mieses Arschloch.
    »Scheiße, hör auf, das ist das Auto von meinem Alten!«
    Weiße Gelmasse mit Blauschimmer, ist ergiebig und klebt besser, als ich dachte. Als Schutzschild ist das Geschmiere aber kaum
     zu bezeichnen und zur Verteidigung taugt es kein Stück. Dennoch habe ich das Gefühl, mich zu wehren, und halte Schleicher
     zumindest optisch von mir fern.
    Schleicher – wohin ist er geschlichen? Ich sehe ihn nicht mehr. Das war zwar der Sinn der Aktion, doch plötzlich stellt sich
     die Frage, ob er überhaupt noch in der Nähe ist? Der Schaum liegt wie eine dämpfende weiße Schneedecke auf den Scheiben. Die
     Beschimpfungen haben aufgehört, Schritte kann ich wegen des Hupens nicht hören.
    Ich strenge meine Ohren an, mache kurze Pausen zwischen den einzelnen Hupattacken: Nichts.
    Ich wische mir ein Guckloch in den Schaum, blicke hindurch wie ein Ritter durch eine Schießscharte. Nur dass ich nichts zum
     Schießen habe und meine Burg ein Blechhaufen ist.
    Wo steckt Mirko? Sucht er etwas, womit er die Scheiben zertrümmern kann? Einen schweren Stein, einen Begrenzungspfahl? Hat
     er seine Waffe schon gefunden und nähert sich wieder? Sind die kleineren Fenster hinten leichter einzuschlagen als die Windschutzscheibe?
     Oder umgekehrt?
    Ich rutsche auf den Rücksitz, wische mir einen Sehschlitz frei, bekomme Schaum in die Augen, reibe, blinzele, reiße die brennenden
     Lider auf: Nichts! Ich rutsche wieder zurück. Wenn ich die Hupe loslasse, findet mich keiner und ich bin verloren, hupe ich
     aber, höre ich selbst gar nichts mehr und weiß nicht mal, von wo die Attacke kommt. Die fehlende Rundumsicht macht mich rasend.
     Der Schaum war eine fatale Idee, hat die Falle erst richtig zuschnappen lassen. Meine Atemzüge werden schneller. Ich habe
     keine Möglichkeit mehr, die Lage einzuschätzen. Was soll ich bloß machen?
    Die Tür aufreißen, in den Wald stürmen, rennen, wie ich noch nie gerannt bin? Und wenn Mirko genau darauf wartet? Wenn er
     ganz nah beim Auto hockt wie ein Panther in Lauerstellung, sofort hinter mir ist, springt und zuschlägt? Oder wenn er mich
     gar nicht packen, sondern nur in den Wald treiben will? Dann braucht er mich nicht anzufassen, kann warten, bis ich einen
     der Steilhänge herunterstürze. Vielleicht hat er auch Alina auf diese Weise in den Tod getrieben? Ohne Taten, nur mit Worten,
     mit der Bosheit eines Angstmachers.
    Ich muss mich entscheiden. Ich muss etwas tun. Ich halte das nicht länger aus. Ich weiß, in den Wald zu laufen ist dumm, aber
     meine Finger umkrallen schon den Türgriff. Ich kriege kaum Luft hier drin und der Schaum macht es noch schlimmer. Gleich zersplittert
     bestimmt das Fensterglas. Mirko soll mich nicht wehrlos finden. Ich will wenigstens laufen.
    Andererseits: Eine Jagd. In hohen Schuhen. Keine Wege, Finsternis, Gestrüpp. Straucheln, Weiterhasten, Schutz suchen. Der
     Abgrund.
    Das schaffe ich nicht!
    Ich muss aber hier raus!
    Wie hupt man um sein Leben?
    Wie entscheidet man sich, wenn jede der zwei Möglichkeiten ein Todesurteil sein kann?
    Quälende, schier endlose Zeit der Ungewissheit. Immer wieder die Kontrolle der Sehschlitze. Während ich meinen klebrigen Kokon
     bewache und der Konflikt in mir tobt, unaushaltbar wird wie ein inneres Feuer, wartet Mirko draußen womöglich kühl darauf,
     dass meine Nerven zuerst versagen. Wie denkt mein Feind: Rennt sie raus, brauche ich Papas Auto nicht zu beschädigen und kann
     nachher sagen, die Verrückte wäre durchgedreht und von selbst ins Verderben gerannt?
    Diesen Zweikampf darf ich nicht verlieren. Ich versuche mich an etwas zu erinnern, das ich beim Fuchs gelernt habe, versuche
     mich zu beruhigen, konzentriere mich auf fünf Dinge, die ich mit meinen Sinnen erfassen kann: den kalten Schweißfilm auf meiner
     Haut; die grünen Leuchtziffern der Uhr im Armaturenbrett
– 0.27
; den Gott sei Dank gleichbleibend lauten Ton der Hupe;den Geruch des Rasierschaums und sein schmieriges Tröpfeln von den Scheiben; den Blutgeschmack von der zerbissenen Lippe.
    0.28
.
    Das schaffe ich nicht. Das halte ich nicht aus.
    Augen zusammenkneifen. In den Bauch atmen. Sekunden zählen.
    0.29.
    Mirko wird jeden Moment loslegen. Ich werde einen dumpfen Schlag hören, seitlich oder hinter mir, und ich werde
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