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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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ältere der beiden Zwillinge. Er trug ein Regencape, von dem das Wasser heruntertropfte.
    »Sie ist infolge des Unwetters stecken geblieben.«
    Er hatte der Oberschwester pflichtbewusst Meldung erstatten wollen, ahnte aber nichts von dem Wettkampf, der hier gerade stattfand. Die Anwesenden blickten erstaunt aus dem Fenster und bemerkten erst jetzt, dass draußen ein mächtiges Unwetter tobte. Die Bäume bogen sich gewaltig, der Regen peitschte gegen die Scheiben, und das Pfeifen des Windes war nun deutlich zu hören. Alle erstarrten, nur Herr S. blieb gelassen.
    »Wenn die Gondel heute nicht mehr fährt, übernachte ich eben hier. Dann könnte ich auch eine Partie gegen den Kleinen Aljechin spielen.«

17
    Der Tag, als Herr S. und das Unwetter kamen, sollte ein denkwürdiger Tag für den Kleinen Aljechin werden. Denn die Partie zwischen ihm und Herrn S. brachte eine berühmte Notation hervor, der auch heute noch viel Bewunderung entgegengebracht wird. Und sie ist der einzige Beweis dafür, dass der Kleine Aljechin tatsächlich existierte.
    Einer der Reporter, die Herrn S. begleiteten, dachte zunächst, eine Partie gegen einen Schachautomaten sei nichts weiter als ein amüsanter Zeitvertreib. Er kam überhaupt nur auf die Idee, sie aufzuzeichnen, weil zufällig noch ein Notationsblatt herumlag. Doch schon bald musste er feststellen, dass er damit nicht auskommen würde. Seine Hand, die den Stift führte, fing irgendwann an, vor Aufregung zu zittern. Aber seine wacklige Handschrift kann man trotzdem noch lesen.
    Dabei tat der Kleine Aljechin gar nichts Besonderes. Er spielte einfach nur Schach, so wie es ihn sein Meister in dem alten, ausrangierten Bus gelehrt hatte. Während draußen das Unwetter wütete, war es unter dem Schachbrett ganz still. Hier gab es nur die unendliche Weite des Ozeans. Das Horrorszenario, das der Junge immer befürchtet hatte, war eingetreten: Die Seilbahn war stecken geblieben. Aber dies erschütterte ihn nicht im Geringsten. Je bedrohlicher es in der Welt da draußen tobte, umso klarer wurde das Wasser um ihn herum. Hand in Hand trieben Indira, Pawn, Miira und der Kleine Aljechin über den Ozean.
    Die sanftmütige Indira wies mit ihrem Rüssel den Weg und achtete darauf, dass niemand verloren ging. Pawns Kummer über den zertrümmerten Bus war verflogen, und Miira wich nicht von der Seite des Jungen. Die Taube hockte reglos auf ihrer Schulter, wie früher, wenn Miira ihre wundervollen Notationen anfertigte.
    Die Partie mit Herrn S. wogte hin und her, wobei der Kleine Aljechin mehrmals in eine bedrohliche Situation geriet. Dann aber hörte er wohlvertraute Worte: »Nicht so hastig, mein Junge.« Die Stimme seines Meisters klang so nah, als würde er neben ihm stehen.
    Der Junge schaute sich um und war erneut sprachlos angesichts der unermesslichen Weite des Ozeans, der ihn umgab. Es war wie damals, als er das erste Mal seinen Meister besiegte. Nun endlich war er am Ende seiner Reise angelangt.
    Ein Lichtstrahl näherte sich. Als gäbe es ihn seit ewigen Zeiten, funkelte er sanft im Wasser. Die Strömung trieb die Gefährten auf ihn zu. Da entdeckte der Kleine Aljechin inmitten des Lichtstrahls den König von Herrn S., ganz allein und ungeschützt.
    Als die Partie vorüber war und die Puppe und Herr S. sich die Hand gaben, schaute der Junge, den Hebel fest umklammert, noch lange auf die Unterseite des Schachbretts. Die Spuren des zähen Kampfes, den er sich mit Herrn S. geliefert hatte, hätten eigentlich dort zu sehen sein müssen. Aber es herrschte nichts als Dunkelheit. Es war, als wollte das Schachbrett über seinem Kopf sagen, dass nichts Besonderes geschehen war. Und so blieb dem Jungen nur das unbestimmte Gefühl, in einem riesigen Ozean geschwommen zu sein.
    Am nächsten Tag, als der Sturm sich gelegt hatte, bekam er nicht mit, dass die Notation, die zusammengefaltet in der Jackentasche des Reporters steckte, mit der inzwischen reparierten Seilbahn ins Tal hinunterfuhr. Und er sollte nie erfahren, dass sie unter dem Titel »Das Wunder des Läufers« in die Schachgeschichte einging. Dass sie mit einer Partitur Barockmusik verglichen werden würde, mit einer Höhlenmalerei oder einer Kristallmine.
    Der Tag nach dem Sturm brachte noch ein anderes wertvolles Zeugnis mit sich: eine Fotografie des Kleinen Aljechin. Die Aufnahme zeigte ihn in einem der seltenen Momente, als er direkt neben einem Schachbrett stand. Sie war zufällig entstanden, als einer der Fotografen ein paar Schnappschüsse
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