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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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wieder zurück auf Ihr Zimmer?« Die Oberschwester schien ihre Unsicherheit zu spüren, und wenig später verließen die beiden den Salon in Richtung Frauentrakt. Neuankömmlinge waren keine Seltenheit, und es kam durchaus vor, dass sich die Betreffenden nicht in aller Form vorstellten. Doch daran störte sich hier niemand. Der Einzige, der der alten Dame nachschaute, war der Junge.
    Von diesem Tag an wartete er sehnsüchtig auf sie im Schachzimmer. Jedes Mal, wenn er sie im Speisesaal oder auf der Terrasse erblickte, hätte er am liebsten ausgerufen: »Bitte besuchen Sie doch Ihre Puppe …« Doch er unterdrückte diesen Impuls und ging wie üblich schweigsam seinen Tätigkeiten nach.
    Jede Nacht erschienen zu fortgeschrittener Stunde die Alten, die nicht schlafen konnten, im Schachzimmer. Auf der Suche nach einem Gefährten nahmen sie vor dem Kleinen Aljechin Platz. Mit der gleichen Aufmerksamkeit, die er den Figuren schenkte, lauschte der Junge im Inneren des Automaten auf die Schritte der alten Dame. Doch es sollte noch über ein Monat vergehen, bis sie zum ersten Mal das Schachzimmer betrat. Ihr schleppender Gang klang bemitleidenswert. Es bedrückte ihn zutiefst, zu wissen, wie mühsam es für sie sein musste, sich von ihrem Zimmer bis hierher zu quälen. Aber nun war sie da.
    Doch die alte Dame, die im Klub jedes Mal zielstrebig auf den Kleinen Aljechin zugegangen war, inspizierte zunächst die anderen Schachbretter und stocherte mit dem Schürhaken in der Glut des Holzofens herum.
    Der Junge legte die Finger an den Hebel, um jederzeit startbereit zu sein. Er erinnerte sich noch genau an alle Partien, die er gemeinsam mit ihr gespielt hatte, von der Einweihung des Kleinen Aljechin bis zu dem Spiel in der Werkstatt, bei dem seine Großmutter zugeschaut hatte. Jede war von einer tiefen Freundschaft beseelt gewesen. Einer Freundschaft, wie man sie nur selten empfindet.
    Schließlich blieben die Geräusche aus, und es war nur noch das Knistern des Brennholzes im Ofen zu hören. Der Kleine Aljechin lauschte angestrengt, ob die alte Dame sich endlich an den Schachtisch gesetzt hatte. Er wusste, dass sie in seiner Nähe war.
    »Wer sind Sie?«
    Ihre Frage kroch in die Tiefe der Nacht.
    »Das sind sehr hübsche Figuren.«
    Zaghaft hob sie erst den König hoch, dann einen Springer und einen Bauern, stellte sie jedoch sofort wieder auf das Brett zurück.
    »Ist das Ihre Katze? Sie sieht sehr klug aus, wie sie so ihre Ohren spitzt.«
    Sie streckte ihre Hand aus und strich sanft über die reparierte Bruchstelle an Pawns Ohr und berührte anschließend das Glöckchen.
    »Warum antworten Sie nicht?« fragte die alte Dame, als der Nachhall des Glöckchens längst verklungen war.
    In ihrem Ton schwang Verwunderung mit, aber auch die Besorgnis, ob die Frage vielleicht zu indiskret gewesen sei. Der Junge fühlte sich ertappt. Sie wartete genauso ungeduldig auf eine Antwort, wie er die ganze Zeit über auf ihr Erscheinen im Schachzimmer gewartet hatte.
    In dieser Nacht war es noch einsamer als sonst. Die reglosen Bäume klammerten sich an die Finsternis, vom Personal der Nachtschicht war nichts zu sehen. Die Bewohner der Residenz »Etüde« schlummerten friedlich in ihren Betten.
    Der Kleine Aljechin fasste einen Entschluss. Er öffnete die Klappe und kroch aus der Puppe.
    »Ja, das ist meine Katze. Sie heißt Pawn.«
    Seine Glieder waren ganz steif. Er lehnte sich gegen den Schachtisch und streckte sich, bis er wieder gerade stehen konnte. Das Licht blendete ihn, er kniff die Augen zusammen und schaute auf den Boden.
    »Pawn? Was bedeutet das?«
    Die alte Dame war nicht im Geringsten erstaunt über den Jungen, der nun vor ihr stand. Weder die Tatsache, dass er vorher in dem Schachautomaten saß, noch dass er merkwürdige Lippen hatte, schien sie sonderlich zu beeindrucken. Sie sah ihn an, wie sie zuvor den Schachautomaten angesehen hatte.
    »Sie kennen nicht das englische Wort
pawn

    Die alte Dame war durch ihre gebeugte Haltung nicht viel größer als er selbst. In ihrem Kleid aus Seide, der Perlenkette, den passenden Ohrringen und der Handtasche am Arm sah sie aus, als wollte sie gerade zu einer Abendgesellschaft aufbrechen. Aber ihr Alter ließ sich nicht verbergen. Ihr Haar war unfrisiert, der Nagellack war abgesprungen und ihre Hände zitterten.
    »Das hier ist ein
pawn
«, erklärte er und reichte ihr den weißen Bauern von h2.
    »Er ist die kleinste und schwächste von allen Schachfiguren, schreitet aber immer mutig
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