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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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Ihres Lebens hier an diesem entlegenen Ort?«
    »Ich habe nie das Gefühl gehabt, unterfordert zu sein«, wehrte er hastig ab.
    »Ach wirklich?«
    Die ganze Zeit über kaute die Oberschwester mit vollen Backen. Der Geruch von Tomatensauce hing im Zimmer.
    »Ja. Es gibt überall Leute, die gerne Schach spielen. In Turniersälen, in denen der Weltmeister ermittelt wird, genauso wie im Schachklub um die Ecke oder in einem Altersheim. Jeder spielt in der für ihn passenden Umgebung.«
    »Unabhängig von der Körpergröße?«
    »Natürlich. Ich krieche ja nicht in die Puppe, weil ich so klein bin, sondern weil ich am besten spielen kann, wenn ich unter dem Schachbrett sitze. Das ist der Grund dafür, dass ich irgendwann aufgehört habe zu wachsen.«
    »Aha, ich verstehe.«
    Die Oberschwester ließ den Löffel auf ihrem Teller kreisen und dachte einen Moment lang nach, bevor sie die letzte Kohlroulade in Angriff nahm.
    »Außerhalb der Puppe könnte ich gar kein Schach spielen. Dazu bin ich nicht geschaffen. Natürlich war es eine großartige Erfahrung, gegen einen Großmeister zu spielen, der weltberühmt ist. Aber diese Freude erlebe ich nur, wenn ich unter dem Schachbrett sitze, nicht davor. Das ist einfach so. Wie ein Läufer nie geradeaus gehen darf, sondern immer nur diagonal. Oder ein Elefant, der nicht mehr in den Aufzug passt, nicht mehr vom Dach eines Kaufhauses kommt.«
    »Ein Elefant?«
    »Ja, ein Elefant.«
    Er hatte nicht nur den richtigen Augenblick verpasst zu gehen, sondern auch unnötig viel geredet. Beschämt senkte der Junge den Kopf.
    An der Wand hing wie immer die adrette Schwesterntracht zum Wechseln. Das Regal war penibel aufgeräumt, das Laken auf dem Bett zeigte keine einzige Falte. An der Fensterscheibe hatte der nächtliche Reif ein weißes Spitzenmuster hinterlassen. Sie hatte ihr Nachtmahl beendet, nur das Dessert war noch übrig.
    Der Junge ahnte nichts davon, dass die Oberschwester in ihrer Schreibtischschublade ein Foto von ihm aufbewahrte.
    »Wollen Sie nicht auch einmal Schach spielen?« fragte er schüchtern.
    »Ach, wo denken Sie hin. Ich habe überhaupt keine Ahnung von diesem Spiel.«
    »Keine Sorge, ich bringe es Ihnen bei. Man hat gesagt, ich sei ein begabter Lehrer.«
    »Wirklich?«
    »Ja, das habe ich dem Menschen zu verdanken, der mir alles beigebracht hat.«
    Die Oberschwester nahm das Schälchen mit der Mousse vom Tablett und betrachtete es gedankenverloren.
    »Na gut. Wenn ich eine ruhige Minute habe, können wir einen Versuch wagen«, sagte sie und stach mit dem Teelöffel in die weiche Schokoladenmasse.
    »Gut. Sagen Sie Bescheid, wenn es Ihnen passt. Ich würde mich sehr freuen.«
    Sie nickten einander zu, aber ihre Verabredung kam nie zustande.
    Es geschah in einer Nacht, die noch frostiger war als die Nächte zuvor. Sonst gab es keine besonderen Vorkommnisse. Der Junge hatte spät das Schachzimmer betreten, nur die Beleuchtung im hinteren Teil des Zimmers eingeschaltet und Brennholz nachgelegt.
    Nachdem er den Kleinen Aljechin begrüßt hatte, wischte er mit einem Tuch den Staub vom Schachbrett, stellte die Figuren auf und band Pawn das Glöckchen um den Hals.
    Hinten in der Mitte König und Dame, daneben die beiden Läufer, die ihrerseits von den Springern flankiert wurden, und an den äußeren Enden die beide Türme. Wie oft in seinem Leben hatte der Junge die Figuren schon auf das Brett gestellt, von seinen Anfängen im ausrangierten Bus bis zum heutigen Tag in der Residenz »Etüde«? Und immer noch hörte er dabei die warme Stimme seines Meisters:
    »Genau so, mein Junge. Das hast du fein gemacht.«
    Wie sehr er das unberührte Schachbrett, wo sämtliche Figuren noch tadellos auf ihrer angestammten Position stehen, doch liebte. Manche strotzen vor Tatendrang, andere schauen nachdenklich in die Ferne. Die Felder in der Mitte des Spielfelds liegen noch still und friedlich da, wohl wissend, dass es bald mit der Ruhe vorbei ist. Denn die Partie kann jeden Augenblick eröffnet werden.
    Der Junge kontrollierte gewissenhaft, ob alle Figuren korrekt in Reih und Glied standen. Dann duckte er sich, kroch in die Puppe und schloss von innen die Klappe. Das Schloss schnappte zu.
    Er zog an dem Hebel, um die Beweglichkeit von Hand und Fingern zu überprüfen, und ließ den Kleinen Aljechin einmal zwinkern. Die unzähligen Zahnrädchen und Federn versetzten die Dunkelheit in Schwingung und trugen dafür Sorge, dass die vom Hebel ausgehende Energie bis in die Fingerspitzen der Puppe
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