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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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zitterte vor Angst.
    Mit gesenktem Kopf trottete sie zu ihrem Platz zurück, wo noch immer das Banner »Sayonara, Indira!« hing. Obwohl sie nichts Schlimmes getan hatte, plagten sie Gewissensbisse, die Menschen enttäuscht zu haben.
    Auf der Terrasse wurden rasch die nötigen Vorkehrungen getroffen, um für den Elefanten halbwegs annehmbare Lebensbedingungen zu schaffen. Der Zaun wurde erhöht und mit einem solideren Schloss versehen, Indira wurde mit dem Fußring angekettet.
    Wenn Kinder sie darum baten, streckte Indira majestätisch ihren prächtigen Rüssel in die Höhe. Bereitwillig ließ sie sich auf alles ein, nur um ihnen eine Freude zu machen. Das Rasseln ihrer Kette wurde vom Johlen der Kinder übertönt. Aber es gab auch Besucher, die sie ärgern wollten und mit Bierdosen nach ihr warfen.
    Weitaus trauriger waren jedoch verregnete Feiertage, die Indira mutterseelenallein auf dem Dach verbringen musste. Es gab keinen einzigen Baum, unter den sie sich hätte stellen können, das Riesenrad und das Karussell standen still, nur der Regen prasselte unablässig auf die Terrasse nieder. Indira wiegte sich hin und her, um ein wenig Ablenkung zu haben, aber sofort zerrte die Kette an ihr. Sie konnte sich immer nur in einem Umkreis von wenigen Metern bewegen.
    Auf diese Weise lebte Indira siebenunddreißig Jahre auf dem Dach des Kaufhauses. Wie sehr sie sich auch danach sehnte, es gelang ihr nie, diesem Ort hoch oben in den Wolken zu entkommen. Sie, die eigentlich durch den Dschungel hätte stampfen sollen, schwebte fast ihr ganzes Leben lang zwischen Himmel und Erde.
    Der Junge gab sich wieder einmal seinen Fantasien über Indira hin. Einsam und verträumt stand er in der Ecke, unbemerkt von den anderen Kindern, die sich derweil auf den Karussellen vergnügten. Unter wolkenlosem Himmel ritten sie selig auf den Holzpferden, umgeben vom süßen Duft der Zuckerwatte. Wer nahm schon Notiz von dem alten verblichenen Schild? Der Junge hatte Indira ganz für sich allein.
    Manchmal wunderte er sich selbst darüber, dass ihn ein toter Kaufhauselefant so faszinierte. Aber er konnte noch nicht in Worte fassen, was ihn mit diesem Elefanten verband, der in seinem Leben eine wichtige Rolle spielen sollte.
    Um ihm näher zu sein, kniete sich der Junge auf den Boden und roch an dem Fußring. Jahrelang lag der nun schon vergessen da, kein einziges Elefantenhaar klebte mehr an ihm, aber der rostige Geruch, der an ein schmutziges Scheuertuch oder einen kariösen Zahn erinnerte, holte Indira in die Gegenwart zurück.
    Was mag in einem Elefanten vorgehen, wenn ihm klar wird, dass er für immer und ewig auf dem Dach gefangen ist? Bestimmt ist er völlig verzweifelt. Ob er sich wünscht, fliegen zu können, um mit seinen riesigen Segelohren sanft auf der Erde zu landen? Aber gutmütig, wie sie war, machte sich Indira wahrscheinlich eher Sorgen über ihr zunehmendes Gewicht und die Gefahr, deswegen irgendwann durch das Dach zu brechen.
    In diesem Augenblick verstand der Junge, dass er nicht bloß Mitleid mit dem Elefanten hatte, sondern auch so etwas wie Neid verspürte. Er beneidete Indira darum, dass sie ihr Leben auf einem Dach verbrachte, ohne jemals ausbrechen zu können.
    »He, großer Bruder!« Die helle Stimme übertönte den Lärm auf dem Dach. Seine Großmutter tauchte auf, mit seinem kleinen Bruder im Schlepptau. Der Junge sah, dass er heute nichts bekommen hatte, aber der Kleine fasste ihn unbekümmert am Arm und erzählte, wie toll die neuen Plastikmodelle in der Spielzeugabteilung waren.
    »Ihr seid bestimmt hungrig, nicht wahr? Lasst uns etwas essen«, sagte derweil ihre Großmutter, die auf der Bank Platz genommen hatte und sich, anscheinend müde vom vielen Herumlaufen, die Knie rieb. Sie wischte sich die Hände mit dem Tuch sauber, das ihr von der Hüfte hing, und wühlte in der Einkaufstasche, aus der sie schließlich eine Thermosflasche und in Papier gewickelte Sandwichs holte. Die beiden Brüder sahen ihr wortlos zu.
    Die Bank stand direkt neben dem Schild. Bislang hatte nie ein anderer Besucher hier Platz genommen. Sie war so verwittert und morsch, dass man den Eindruck hatte, man habe sie eigens für die drei dort vergessen. Von hier aus schauten sie in den Himmel, wie einst Indira, aßen dabei ihre Sandwichs und tranken Eistee. Der Kleine schwärmte unverdrossen, wie toll es doch in der Spielzeugabteilung gewesen sei.
    Der Junge hörte seinem Bruder aufmerksam zu und pickte hin und wieder Brotkrümel von dessen
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