Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
Vom Netzwerk:
half. Wenn sie mit den Nachbarn plauderte, knetete sie darauf herum, drückte es zusammen und zog es wieder auseinander. Abends, wenn sie die Strickarbeit beiseitelegte, malte sie mit der Spitze ihrer Stricknadeln irgendwelche Zeichen in den Stoff.
    Das Tuch war Großmutters Talisman, ihr Heiligtum, ihr Schutzengel, es war wie ein Teil ihres Körpers. In dieser Eigenschaft wurde es auch nie gewaschen. Hätte sie das Tuch zum Trocknen auf die Leine hängen müssen, wäre das einer Amputation gleichgekommen. Natürlich war das Blumenmuster längst verblichen. Das Tuch besaß nun eine Patina, die kein Farbpigment hätte zustande bringen können, und verströmte einen eigentümlichen Geruch. Irgendwann war es nicht mehr von der Farbe ihrer Haut zu unterscheiden.
    Wie es dazu gekommen war, hing mit dem Tod ihrer einzigen Tochter zusammen. Sie hatte das Tuch von jenem Moment an ins Herz geschlossen, nachdem sich im Anschluss an die Bestattungszeremonie alle Trauergäste verabschiedet hatten. Das liegen gebliebene Küchentuch nahm sie beiläufig vom Tisch, als sie sich auf einem Stuhl niederließ. Erst als sie es in Händen hielt, konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Ihr Mann schaute derweil nur stumm aus dem Fenster. Später gingen sie gemeinsam hinüber zu einem schäbigen Sofa, wo ihre Enkel bereits eingeschlafen waren, und trugen sie ins Bett.
    Der Junge war ein sehr stilles Kind. Die Nachbarn vermuteten, er käme nach seinem Großvater, aber in Wirklichkeit gab es dafür einen Grund, von dem niemand wusste. Bei der Geburt des Jungen waren seine Oberund Unterlippe miteinander verwachsen. Deshalb konnte auch kein Schrei aus seinem Mund dringen.
    Lippendeformationen sind bei Neugeborenen an sich keine Seltenheit, aber die Lippen des Jungen klebten so fest aneinander, dass man sie partout nicht lösen konnte, sosehr man sich auch bemühte. Auch für den Arzt war dies ein völlig neuartiges Phänomen, das ihm in seiner medizinischen Laufbahn bislang nicht begegnet war.
    Fast schien es, als wäre das Neugeborene wild entschlossen, den anderen seine im Mund versiegelte Dunkelheit vorzuenthalten. Zugleich schien es aber nicht zu wissen, wohin mit dem Hall der eigenen Stimme, die nun in seinem Herzen eingekerkert war. Man nahm unverzüglich einen Eingriff vor. Das Neugeborene wurde aus den Armen der Mutter gerissen und auf einen kalten Operationstisch gelegt. Seine Lippen waren zierlicher als der kleine Finger des Arztes, so zart, als seien sie noch gar nicht reif für diese Welt. Blitzschnell wurden sie mit einem Skalpell auseinandergeschnitten. So wurde Gottes gnädiges Werk von den zittrigen Händen eines Chirurgen vollbracht. Aber was, wenn Gott vielleicht gewollt hätte, dass zum Wohl des Kindes seine Lippen verschlossen blieben?
    Die ihrer ursprünglichen Form beraubten Lippen bluteten, die Haut platzte auf, die Schleimhäute lagen bloß. Der Arzt verpflanzte ein Stück Haut von der Wade. Als der Säugling aus der Narkose erwachte, spürte er sofort, dass etwas mit ihm geschehen war. Nur zögerlich öffnete er die Lippen, und sein Blick schien zu fragen, ob er so alles richtig machte. Dann fing er an zu schreien, seine ersten Laute auf dieser Welt. Es war ein unbeholfenes Schreien, entweder wirkte die Narkose noch, oder aber das schnell hingepfuschte Lippenpaar behinderte ihn.
    Es war jedoch fraglich, ob seine Wortkargheit tatsächlich darauf zurückzuführen war. Allein die Tatsache blieb bestehen, dass er zum Zeitpunkt seiner Geburt kein geeignetes Organ besaß, um seine Worte herauszulassen. Die neu geschaffenen Lippen waren für immer und ewig nur eine Imitation.
    Seine Schweigsamkeit bedeutete allerdings nicht, dass er sprachlich zurückgeblieben war. Bereits in der Phase, in der Kinder das Laufen lernen, verstand er, dass alle Dinge einen Namen haben, und lernte diese mit verblüffender Geschwindigkeit. Seiner Großmutter fiel als Erster auf, wie intelligent der Junge war. Eines Tages, als sie in ihrem Nähkorb wühlte und gedankenverloren »leer … leer …« murmelte, kam der Kleine herbei und hielt ihr seinen Teddybär hin.
    »Oh, du hast wohl verstanden, wonach ich suche. Wie schlau du bist. Vielen Dank.«
    Die Großmutter nahm den Teddy in ihren Arm, schmiegte ihn an die Wange und stickte ihm das Wort »Bär« auf den Po.
    Auch die Konzentrationsfähigkeit des Jungen war bemerkenswert. Besonders angetan hatte es ihm der Reißverschluss einer Einkaufstasche. Den ganzen Tag über machte er ihn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher