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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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aufblitzen.
    Warum befindet sich ein wehrloses, zartes Organ wie die Lippen eines Menschen so auffällig mitten im Gesicht? Wieso schickten robustere Körperteile wie Nägel und Zähne ausgerechnet sie an die vorderste Front? Wollten sie sich hinter den Lippen verschanzen? Dem Jungen erschien das in diesem Moment unsinniger denn je.
    Der Anführer schnitt ihm den Flaum weg. Als die Klingen seine Lippen berührten, schmeckten sie bitter. Die Härchen waren so fein, dass sie beim Schneiden überhaupt keinen Widerstand leisteten, woraufhin der Anführer besonders laut mit der Schere klapperte. Der Junge dachte bei sich, dass seine Kameraden bestimmt nicht so abgebrüht waren, den Anblick von Blut zu ertragen, und ließ die Prozedur klaglos über sich ergehen.
    »So, jetzt fühlst du dich bestimmt frisch, was? Wenn sie nachwachsen sollten, bin ich gerne wieder behilflich«, rief der Anführer ihm zu, als er mit den anderen abzog.
    Der Junge spuckte auf den Boden, wischte sich mit dem Ärmel die Lippen ab und strich mit einem Finger über die vernarbte Stelle, wohin die Haut von der Wade verpflanzt worden war. Es war eine wulstige, schlecht genähte Wunde. Aus der Ferne bedachten ihn seine Schulkameraden mit neuen Hänseleien. Aber anstatt sich zu wehren, presste der Junge die Lippen fest aufeinander, sodass sie in ihrem ursprünglichen Zustand waren. Er erinnerte sich an das Gefühl von damals, als sie noch miteinander verwachsen waren. Obwohl sein Erinnerungsvermögen eigentlich nicht so weit zurückreichte, überkam ihn ein wohliger Schauer von Vertrautheit. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand mehr in der Nähe war, stand er auf und lief nach Hause.
    Nur ein einziges Mal hatte er seine Großmutter gefragt, weshalb man seine Lippen voneinander getrennt habe.
    »Weil du sonst keine Luft bekommen hättest.«
    Ihre Antworten waren stets sehr pragmatisch.
    »Aber man kann doch auch durch die Nase atmen …«
    »Ja, aber wie hätte man dich sonst stillen sollen?«
    »Aber wieso hat Gott mich so geschaffen, dass ich nicht an der Brust saugen kann?«
    Die Großmutter ließ ihre Stickarbeit sinken und knetete auf ihrem geliebten Tuch herum, das an ihrer Schürze hing.
    »Nun ja, auch der liebe Gott handelt manchmal etwas überstürzt«, sagte sie und blickte auf das Tuch.
    »Vielleicht hat er sich ja an einer anderen Stelle sehr viel Mühe gegeben und es deshalb nicht rechtzeitig geschafft, noch deine Lippen zu trennen.«
    »Welche andere Stelle denn?«
    »Das kann man nicht immer sofort erkennen, denn es liegt allein in seiner Hand! Augen, Nase, die Stimmbänder – irgendeines dieser Organe hat er bestimmt mit einem besonderen Mechanismus ausgestattet, den andere nicht haben. Da bin ich mir sicher.«
    »Aber ich habe keinen solchen Mechanismus.«
    »Es ist ja auch nicht Gottes Aufgabe, dir zu zeigen, welchen Nutzen du daraus ziehen kannst. Dafür musst du schon selbst sorgen. Es ist der Mensch, der Gottes Einfälle zur Geltung bringt. Ohne ihn wäre Gott aufgeschmissen, meinst du nicht? Aber da Gott sich so beeilen musste, ist bestimmt etwas ganz Besonderes dabei herausgekommen. Vielleicht bist du handwerklich genauso begabt wie dein Großvater. Oder du wirst einmal der Beste bei einem Singwettbewerb oder der Schnellste beim Laufen sein. Weißt du, ich kann es kaum erwarten, dass du erwachsen wirst. Dann werden wir schon sehen.«
    Die Großmutter nahm ihren Enkel in den Arm und strich ihm über das Haar. Der merkwürdige Geruch des Tuchs stieg ihm in die Nase. Es roch genauso wie Indiras Fußring.
    Es war einem Zwischenfall zu verdanken, dass die Jungen aus seiner Klasse künftig davon abließen, ihm weitere »Rasuren« zu verpassen. Um seinen Mitschülern aus dem Weg zu gehen, verließ der Junge allmorgendlich schon früh das Haus. Auch an jenem Tag war er als Erster in der Schule und ging durch das Tor am Schwimmbad vorbei in Richtung Klassenzimmer. Plötzlich bemerkte er, dass an diesem Morgen etwas anders war als sonst, und blieb stehen. Der Sommer war vorüber und damit auch der Schwimmunterricht, aber das Wasser im Becken war noch nicht abgelassen. Auf der sonnenbeschienenen Oberfläche schwammen dürres Laub und tote Insekten. An der Stirnseite des Beckens entdeckte der Junge einen bäuchlings im Wasser treibenden Körper.
    Er dachte zunächst gar nicht daran, dass es sich um einen Menschen handeln könnte, sondern meinte, jemand habe eine Schaufensterpuppe ins Schwimmbad geworfen, um ihm einen Schrecken
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