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Schwimmen mit Elefanten - Roman

Schwimmen mit Elefanten - Roman

Titel: Schwimmen mit Elefanten - Roman
Autoren: Verlagsbuchhandlung Liebeskind GmbH & Co. KG
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strahlte.
    Als der Junge sich eingerichtet und die nötigen Vorbereitungen für die nächste Partie getroffen hatte, atmete er tief durch und schloss dann die Augen. Nachdem er im Ofen ein paar Scheite nachgelegt hatte, war ihm nun wohlig warm. Der kalte Wind pfiff durch den Innenhof und rüttelte an den Fensterscheiben, dazwischen war nur das leise Knistern des lodernden Feuers zu hören. Wer würde wohl heute Nacht sein Gegner sein? Ein redseliger, angriffslustiger Spieler oder ein stiller Verfechter eines gerechten Remis? Ihm war jeder recht, der sich am Schachspielen erfreute.
    Aber tief in seinem Herzen sehnte er sich nach der alten Dame. Vielleicht könnte er ihr heute die Figur des Läufers erklären. Oder besser noch: den Springer, der gleich neben dem Turm stand …
    Der Junge öffnete wieder die Augen. Die Dunkelheit, die in der Puppe herrschte, war nicht anders als die hinter seinen geschlossenen Lidern. Eine Dunkelheit, die nicht den leichtesten, sondern den besten Weg aufzeigte. Niemand hatte bislang das Schachzimmer betreten. Selbst die Schritte des Personals von der Nachtschicht hatte der Wind fortgetragen.
    Je stiller es wurde, desto mehr hatte der Junge das Gefühl zu schrumpfen. Seit er in der Residenz lebte, hatte er nie wieder solche Schmerzen gehabt wie damals im Klub am Grunde des Meeres. Er konnte seine Glieder inzwischen problemlos verbiegen, um sich an die Konturen des Puppeninneren anschmiegen zu können. So weich waren seine Muskeln, Sehnen und Bänder im Laufe der Jahre geworden. Es hatte nichts Unnatürliches, alle Körperteile fügten sich harmonisch zusammen, als würde der Junge wieder in den Embryonalzustand zurückkehren, als seine Lippen noch versiegelt waren.
    Ob Miira seinen letzten Brief schon gelesen hatte? Und wo hätte sie das getan? In ihrem Zimmer? Oder in einem der Klubräume? Bestimmt war die ehemalige Damendusche mittlerweile umgestaltet worden, schließlich gab es dort keinen Schachautomaten mehr. Aber die Taube würde wie immer auf Miiras Schulter hocken. Allein dessen war er sich hier im Dunkeln der Puppe gewiss.
    Er hoffte, sie würde den Umschlag nicht gedankenlos aufreißen, sondern so langsam öffnen wie er selbst, um die Freude darüber voll auszuschöpfen. Da sie so oft an seiner Seite gewesen war, als er gespielt hatte, sollte man meinen, dass sie eine Partie nicht unnötig in die Länge ziehen würde. Sie würde aufgeben, wenn ihr klar wurde, dass sie nicht mehr gewinnen konnte. Und dann würde er ihr einen richtigen Brief schreiben. Mit Worten. Und er würde ihr gestehen, dass er damals, als Miira in die Werkstatt gekommen war, um sich von ihm zu verabschieden, nicht den Mut gehabt hatte, aus dem Automaten zu kriechen. Dass er sie nie in seine Pläne eingeweiht hatte, mit dem Kleinen Aljechin zu flüchten. Dass er den Bauern auf h2 nur geopfert hatte, weil er seinen Gegner in die Schranken weisen musste.
    Die Frage war nur, ob er die richtigen Worte finden würde. Konnte man überhaupt jemandem etwas deutlicher sagen, als mit dem Bauern von e2 auf e4 vorzurücken?
    Der Junge legte die Stirn auf seine Knie und seufzte. Er verspürte eine tiefe Müdigkeit. Vielleicht wollte auch Miira einen richtigen Brief schreiben? Vielleicht gelang es auch ihr nicht, die richtigen Worte zu finden, und stattdessen notierte sie »e4«. Immerhin war dies ein Zeichen dafür, dass sie ihm verziehen hatte, oder? Sonst hätte sie ja wohl kaum die Partie eröffnet. Mit jedem Brief wollten sie wieder zueinander finden, und jetzt, nachdem er ihr Schach geboten hatte, würden sich ihre Hände vielleicht wieder berühren. Oh, er konnte Miiras Finger schon spüren …
    Am nächsten Morgen fiel als Erstes der Putzfrau auf, dass etwas nicht stimmte. Als sie das Schachzimmer betrat, roch es versengt, aber sie schenkte dem keine Beachtung, da sie annahm, der Geruch käme von den Holzscheiten, die im Ofen vor sich hin schwelten. Sie öffnete die Fenster und schaltete den Staubsauger ein. Nachdem sie sich systematisch um Tische und Stühle herumgearbeitet hatte, immer peinlich genau darauf achtend, keines der Schachbretter anzustoßen, kam sie schließlich in die Ecke, wo die Puppe stand. Dort bemerkte sie, dass der Schornstein des Ofens eingeknickt war, wahrscheinlich aufgrund seines Alters. Da der umliegende Teppich angesengt und die Tapete verkohlt war, fühlte sie sich zunächst erleichtert, dass kein Feuer ausgebrochen war. Als sie an den verbrannten Stellen rieb, flog schwarze Asche durch
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