Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben
Autoren: Freda Wolff
Vom Netzwerk:
auf dem Schreibtisch, keine mit Wachsmalstiften gekritzelte Kinderzeichnung an der Wand, keinerlei Informationen darüber, dass sie eine Tochter hatte. Bis auf den gelben Merkzettel neben dem Telefon, schoss es ihr gleich darauf durch den Kopf, da stand Julias neue Handynummer! Verärgert über ihre Nachlässigkeit riss sie den Zettel von der Unterlage und zerknüllte ihn.
    Aber er hat die ganze Zeit im Sessel gesessen, versuchte sie sich zu beruhigen, er war nicht am Schreibtisch, er konnte den Zettel nicht gelesen haben. Andererseits war es wahrscheinlich ohnehin kein Problem, irgendetwas über sie herauszubekommen – wenn man lange genug suchte, gab das Internet nahezu jede Information preis, die man haben wollte. Und sie trug nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen, genau wie Julia auch. Damit war es nicht weiter schwierig, irgendwelche Einträge von Julias früherer Schule zu finden, Klassenfotos, Bilder aus dem Abiturjahrgang, von der Abschlussfeier, was auch immer. Jemand brauchte also nur eins und eins zusammenzuzählen und würde sofort wissen, dass sie eine Tochter hatte, mehr noch, auch wie alt diese Tochter war und wie sie aussah.
    Andererseits war Merette sich ja noch nicht mal sicher, was sie überhaupt von den Bekenntnissen ihres Patienten halten sollte. Möglich war es tatsächlich, dass er aufgrund seiner psychischen Verfassung einen Mitteilungsdrang entwickelt hatte, der ihn zu diesen völlig unerwarteten Geständnissen veranlasste. Hinzu kam, dass er natürlich wusste, dass sie an ihre Schweigepflicht gebunden war, er damit also jeden Freiraum hatte, den er wollte. Aber irgendetwas an der ganzen Sache war nicht stimmig. Er hatte offensichtlich ein Problem mit Frauen, die er für »clever« hielt, das konnte ihn durchaus auf die Idee gebracht haben, einfach nur seine Macht ihr gegenüber demonstrieren zu wollen. Er wollte sie erschüttern, um zu sehen, wie sie reagierte. Seine Geständnisse waren frei erfunden, weil er auf diese Weise sein eigentliches Minderwertigkeitsgefühl verbergen wollte.
    Er war mit ziemlicher Sicherheit ein Soziopath, und damit gehörte er in die Patientengruppe, die ihr immer schon am meisten Angst gemacht hatte. Jemand, der – im Fachjargon – an einer dissozialen und narzisstischen Persönlichkeitsstörung litt, war unberechenbar und im Zweifelsfall gefährlich, weil er, ohne zu zögern, auch zu Gewalttaten neigen würde.
    Dass er intelligent war, stand außer jeder Frage, nicht nur wegen des Tests, den Merette in den Akten entdeckt hatte. Sie nahm sich nochmals den Ordner vor, während sie die letzte Zigarette aus der Packung unangezündet zwischen die Lippen schob und Marianne Faithfull sang: »Do you remember me, do you remember anything? File it under fun from the past …«
    Besonders viel »fun« hatte es in diesem Lebenslauf ehernicht gegeben, dachte Merette unbewusst, als sie sich durch die Seiten blätterte.
    Vor der ersten Sitzung, von der auch die Aufzeichnung stammte, hatte sie sich nur einen schnellen Überblick verschaffen können. Sie hatte den Fall von einem Kollegen aus der sozialpsychiatrischen Abteilung der Uniklinik übernommen, der aus Krankheitsgründen ausgefallen war. Strenggenommen war es gar kein Fall im therapeutischen Sinn, sondern ein vom Gericht bestellter Betreuer hatte ein psychologisches Gutachten angefordert – und es war angeblich so dringend gewesen, dass ein Aufschub nicht in Frage kam. Merette hatte die entsprechende Akte erst am Vormittag desselben Tages in die Hand bekommen, an dem auch der Termin mit dem Patienten war. Sie war sehr verärgert über diese Schlamperei gewesen, die sie zwang, ohne ausreichende Vorbereitung in das Gespräch zu gehen, und hatte tatsächlich kurz erwogen gehabt, den Termin einfach abzusagen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie genau das auch getan hätte, aber jetzt war es zu spät, um irgendetwas rückgängig zu machen.
    Automatisch griff sie nach dem Feuerzeug. Als ihr wieder der Rauch in die Augen stieg, drückte sie die Zigarette ärgerlich aus.
    Anders als bei ihrer ersten Durchsicht der Aktennotizen suchte sie diesmal nach einem konkreten Hinweis, der ihr helfen würde, die Zusammenhänge zu erkennen. Eine Art fehlendes Puzzleteil, von dem sie keine Ahnung hatte, wie es aussehen könnte …
    Mutter minderjährig und Heimkind, Vater offiziell unbekannt, aber einem Gerücht zufolge möglicherweise einer der Heimerzieher, der noch während der Schwangerschaftdes Mädchens die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher