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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben
Autoren: Freda Wolff
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roch. Sie war genauso wie alle anderen Psychologen, die er kennengelernt hatte. Sie versteckte sich hinter einer Fassade und glaubte, dass sie ihm überlegen war. Dabei hatte sie selbst genug Probleme, die sie nicht gelöst bekam, da war er sich sicher. Aber er würde ihre Fassade Stück für Stück niederreißen, bis nichts mehr von ihr übrig blieb als ein Scherbenhaufen.
    Den ersten Schritt hatte er bereits getan, als er ihr das kleine Mordgeständnis geliefert hatte. Und nachdem er neben dem Telefon auf ihrem Schreibtisch den gelben Merkzettel gesehen hatte, brauchte er nur noch eins und eins zusammenzuzählen: NEUE NUMMER VON JULIA. Und eine Handynummer. Er war schon immer gut darin gewesen, sich Zahlen zu merken, ein flüchtiger Blick reichte, um sie in seinem Gehirn abzuspeichern.
    Er hatte die Vorfreude noch ein wenig ausgekostet, bevor er die Nummer gewählt hatte. Und die Tochter hatte schon genauso arrogant geklungen wie ihre Mutter, obwohl sie wahrscheinlich gerade erst Anfang zwanzig war. Er war gespannt, wie lange es dauern würde, bis ihre Überheblichkeit sich in Luft auflöste, wenn er erst mal seinen Plan umgesetzt hatte.

MERETTE. 10 Stunden vorher
    Merette hatte die halbe Nacht nicht geschlafen, obwohl sie todmüde war, nachdem sie ihre Nachmittagstermine hinter sich gebracht und schließlich noch einen langen und langweiligen Abend auf der Geburtstagsfeier eines Kollegen durchgestanden hatte – mit zu viel Alkohol und zu vielen Zigaretten. Unruhig hatte sie sich dann in ihrem Bett hin und her geworfen, während ihre Gedanken wie in einer Endlosschleife immer wieder um das Gespräch mit ihrem Patienten vom vergangenen Mittag kreisten. Gegen sechs hatte sie jeden weiteren Versuch einzuschlafen endgültig aufgegeben und sich stattdessen in die Küche gehockt, mit einem Becher heißem Kaffee zwischen den Händen, von dem sie bereits nach dem ersten Schluck wusste, dass ihr Magen über kurz oder lang rebellieren würde. Auch nachdem sie geduscht und sich die Haare gewaschen hatte, fühlte sie sich immer noch wie gerädert.
    Jetzt war sie in ihrem Arbeitszimmer und lief unruhig auf und ab. Vom Sessel am Schreibtisch vorbei zum Fenster und zurück. Fünf Schritte hin, fünf Schritte her. Ihr üblicher Weg, wenn ihr etwas durch den Kopf ging, das nach einer Entscheidung verlangte. Aber diesmal war es anders als sonst, diesmal spürte sie so etwas wie eine unbestimmte Angst.
    »Mach dich nicht lächerlich«, sagte sie laut und griff nach der Zigarettenschachtel, obwohl sie sich gerade unter der Dusche noch geschworen hatte, ihren Nikotinkonsum konsequent einzuschränken. Auf dem neu gepflanzten Baum im Garten saß eine Amsel und betrachtete sie einen Moment mit schief gelegtem Kopf, bevor sie wieder zu zwitschern anfing. Selbst durch das geschlossene Fenster kam Merette der Gesang des Vogels unerträglich laut vor.
    Mit der brennenden Zigarette zwischen den Lippen schob sie wahllos irgendeine CD in den Player. Als ihr der Rauch in die Augen stieg, musste sie heftig blinzeln, um die Playtaste erkennen zu können.
    Der Song, der gleich darauf durchs Zimmer schallte, diente nicht gerade dazu, ihre Stimmung zu verbessern. Marianne Faithfull, »I know that woman in the mirror, but tell me, who is she?«. Es war nicht nur Mariannes Stimme, dachte sie, es war vor allem auch die Musik, der schleppende Beat, dieses Dunkle und Abgründige, das in der Melodie mitschwang und das einen unversehens in die tiefste Depression zu ziehen schien. Merette erinnerte sich an ein Interview, in dem Marianne Faithfull erzählt hatte, wie sehr sie es genoss, sich in depressiven Songs zu verlieren.
    Aber sie brachte nicht die Energie auf, nach einer anderen CD zu suchen, stattdessen sang sie leise mit, »tell me, tell me, who is she?«.
    Ich hätte den Stick nicht in der Anlage vergessen dürfen, dachte sie, das war idiotisch. Aber sie hatte dieses verdammte Patientengespräch in aller Ruhe noch mal hören wollen, ohne dabei den Laptop benutzen zu müssen, mitdem sie die Aufnahme gemacht hatte. Sie war sich nicht sicher, ob Julia wirklich etwas davon mitbekommen hatte, möglich war es jedoch, Julia liebte es, heimlich in ihren Sachen zu schnüffeln.
    Merette warf einen Blick durch ihr Arbeitszimmer und versuchte, sich in die Situation eines Patienten zu versetzen, der die Gelegenheit nutzen wollte, um irgendetwas Persönliches über sie in Erfahrung zu bringen. Aber da war nichts, was einen Hinweis geben konnte, kein privates Foto
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