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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben
Autoren: Freda Wolff
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Arbeitsstelle gewechselt hatte. Der Fall war offensichtlich nicht näher untersucht worden, der Junge wurde gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben, im Alter von fünf Jahren dann vom Jugendamt wegen des Verdachts auf Vernachlässigung wieder aus der Familie genommen, es gab jedoch keine Hinweise auf sexuellen Missbrauch.
    In der nächsten Pflegefamilie schien es besser zu laufen, bei den Routinekontrollen wurde nur festgestellt, dass der Junge auffällig still und zurückgezogen war, in der Grundschule war er der typische Einzelgänger, der sich schwer damit tat, Freunde zu finden. Allerdings galt er nach Aussage der Klassenlehrerin bei den Mitschülern als eine Art »Held«, nachdem er mehrere Tage lang eine ertrunkene Katze, die er aus dem Hafenbecken gefischt hatte, von den Lehrern unbemerkt in seiner Schultasche mit zum Unterricht geschleppt hatte.
    »Also was jetzt?«, murmelte sie halblaut vor sich hin. »Einzelgänger und keine Freunde oder Klassenheld?«
    Kopfschüttelnd las sie weiter.
    Seine schulischen Leistungen entsprachen dem Durchschnitt, allerdings beklagte die Klassenlehrerin wiederholt seine nahezu totale Verweigerung gegenüber jeder Art von mündlicher Beteiligung. Dennoch gewann er in der vierten Klasse einen Vorlesewettbewerb mit einer Geschichte, von der sich hinterher herausstellte, dass er sie selbst geschrieben hatte. Die Geschichte wurde dann sogar in der Tageszeitung abgedruckt, die angeheftete Kopie war jedoch bis zur Unkenntlichkeit verblichen, das dazugehörige Foto ließ nur mit Mühe den kleinen Jungen erahnen, der verschüchtert in die Kamera blickte, während er seinen Preis entgegennahm.
    Merette machte gar nicht erst den Versuch, den Text entziffern zu wollen, sondern blätterte weiter zu den nächsten Einträgen.
    Mit zehn Jahren wechselte er auf ein Gymnasium, dann gab es einen »tragischen Unglücksfall«, seine Stiefschwester war ertrunken, weshalb er die Pflegefamilie verlassen musste und ins Heim kam. Aus dieser Zeit stammte auch der Intelligenztest, den das Jugendamt angeordnet hatte. Das Testergebnis war ebenfalls in Kopie beigelegt, ein IQ von 138, der sie aber nicht weiter verblüffte – sie kannte genug Fälle, bei denen der IQ ihrer Patienten im krassen Gegensatz zu ihrer sozialen Kompetenz stand.
    »Wieso gibt es keine Angaben weiter zu diesem Unglücksfall?«, fragte sie laut in die Stille ihres Arbeitszimmers hinein. »Was ist da genau passiert?«
    Das Mordgeständnis ihres Patienten bezog sich eindeutig auf dieses Unglück, aber in der Akte fehlte jeder Hinweis auf ein Fremdverschulden.
    Der Name, mit dem der letzte Bericht abgezeichnet war, ließ sie unwillkürlich den Atem anhalten. Sie kannte den Namen nur zu gut, Dr. Ingvar Alnæs war wahrscheinlich der einzige Kollege, bei dem sie jemals erwogen hatte, den Psychologenverband einzuschalten, um ihm wegen absoluter Missachtung aller Grundsätze einer Therapie die Zulassung entziehen zu lassen. Sie hatte damals eine junge Frau behandelt, die kurz zuvor einen Suizidversuch unternommen hatte. In den Gesprächen mit der Frau stellte sich heraus, dass sie mehrere Monate bei Alnæs wegen psychischer Probleme und Angstattacken in Behandlung gewesen war, seine Therapie hatte darin gegipfelt, dass er die junge Frau mit einer Klobrille um den Hals durch die Fußgängerzonehatte laufen lassen, um auf diese Weise ihr Selbstvertrauen zu stärken.
    Aber dann war Alnæs ohnehin in den Ruhestand versetzt worden, und sie hatte schon seit mehreren Jahren nichts mehr über ihn gehört. Eher abwesend überflog sie noch den knappen Abschlussbericht des früheren Kollegen, der in dem Fazit endete, dass der Patient nicht mehr in eine Pflegefamilie vermittelbar war und demzufolge bis zu seiner Volljährigkeit im Heim bleiben sollte.
    Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf, der sie den PC hochfahren und den Namen »Alnæs« eingeben ließ. Sie klickte sich durch verschiedene Einträge, bis sie fand, was sie suchte. Ein kurzer Blick auf die Vita bestätigte den spontanen Verdacht, den sie eben gehabt hatte – Alnæs war als psychologischer Mitarbeiter zunächst in einem Heim gewesen, bevor er ins Jugendamt gewechselt war. Und der Name des Heims war identisch mit eben dem Heim, in dem die minderjährige Mutter womöglich von einem Mitarbeiter geschwängert worden war!
    Sieh mal einer an, dachte Merette. Dann hat Alnæs also noch viel mehr Dreck am Stecken, als ich geahnt habe! So wie es aussieht, ist er aller Wahrscheinlichkeit
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