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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben
Autoren: Freda Wolff
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nach der Vater des Jungen, den er dann später für immer ins Heim abgeschoben hat.
    Sie überlegte, ob diese Information irgendeine Relevanz für die jetzige Situation haben könnte, kam aber zu keinem Ergebnis. Ich muss mit irgendjemandem reden, dachte sie, ich brauche eine Einschätzung von einer Person, die nicht persönlich beteiligt ist. Während sie schon nach dem Telefon griff, ging sie im Kopf die Liste der Namen durch, die für ein solches Gespräch in Frage kamen. Natürlich konntesie ihre Supervisorin anrufen und einen kurzfristigen Termin vereinbaren, um ihr Problem zu besprechen. Aber gleichzeitig wusste sie, dass sie bei Birgitta nicht die Antworten bekommen würde, nach denen sie suchte. Es ging um mehr als irgendeinen Fall, bei dem sie keinen Ansatz für die Therapie hatte und nicht weiterkam – es ging um sie selbst und die unbestimmte Angst, die sie verspürte. Die Angst, dass die Andeutungen, die ihr Patient gemacht hatte, tatsächlich eine konkrete Bedrohung darstellten, und zwar womöglich auch für ihre eigene Tochter, für Julia!
    Auch wenn sie wusste, dass es bislang keinerlei Zusammenhang gab, ließ sie der Gedanke nicht los, dass Julia in Gefahr war. Vielleicht übertrieb sie auch und sah Gespenster. Vielleicht sollte sie auch alle Bedenken außer Acht lassen und sich direkt an die Polizei wenden – sie wusste es nicht. Sie hatte ein Mordgeständnis auf dem Band und keinerlei Einschätzung darüber, ob die Aussage ernst zu nehmen war. Allein der Gedanke, dass sie einen Fehler machen könnte, ließ sie frösteln.
    Jan-Oles Nummer kannte sie auswendig. Noch während ihre Finger die Tasten drückten, überlegte sie, wie sie ihr Gespräch auf eine rein professionelle Ebene lenken könnte. Gleichzeitig wusste sie, dass das nicht möglich sein würde. Aber genau das war auch der Grund, warum sie ihn anrief und nicht Birgitta. Jan-Ole war der Einzige, bei dem sie ihre berufsbedingten Gesprächsmuster außer Acht lassen und stattdessen offen über ihre Angst reden konnte. Vor allem brauchte sie seinen Rat, ob sie Julia noch weiter in ihre Probleme hineinziehen sollte, als es durch den dummen Zufall mit der Bandaufzeichnung vielleicht ohnehin bereits geschehen war.
    Er nahm das Gespräch schon nach dem zweiten Klingelton an, allerdings war die Verbindung so schlecht, dass sie ihn kaum verstand.
    »Wo bist du?«, rief sie anstelle irgendeiner Form von Begrüßung in den Hörer, »ich hör dich ganz schlecht …«
    »Dänemark, in der Nähe von Kopenhagen. Was ist los, Merette?«
    Sie nahm es als selbstverständlich hin, dass er sofort wusste, wen er am Apparat hatte. Sollte er auch, dachte sie noch, bevor ihr einfiel, dass er ihren Namen wahrscheinlich ganz einfach auf dem Display gelesen hatte.
    »Merette? Bist du noch dran?«
    »Sorry, dass ich dich anrufe, aber … wie lange bist du noch da in Dänemark?«
    »Drei, vier Tage vielleicht. Die ehemaligen Kollegen hier haben mich angefordert, es geht um einen Fall, der schon länger zurückliegt, als ich noch im Dienst war, und jetzt … Aber egal. Warum rufst du an?«
    »Nicht so wichtig, mach dir keine Gedanken deshalb. Meldest du dich mal, wenn du zurück bist?«
    »Klar, ja. Aber du kannst mich auch heute Abend im Hotel anrufen.«
    »Nein, nein, ist schon okay. Es hat Zeit, bis du wieder hier bist.«
    »Wirklich? Du rufst doch nicht einfach …«
    »Wirklich, Jan-Ole. Vergiss es! War schön, deine Stimme gehört zu haben, alles andere kann warten.«
    »He, irgendwas stimmt doch nicht mit dir!«
    »Alles okay. Lass es dir gutgehen.«
    Sie unterbrach die Verbindung, bevor er noch weitere Fragen stellen konnte. Das war also schon mal nichts, dachtesie. Und: So viel dazu, dass sie gerade kurz davor gewesen war, wider jedes Berufsethos zu handeln und sich ausgerechnet einem Polizisten anzuvertrauen. Einem Exbullen, korrigierte sie sich. Der nicht nur mit dem Alkohol Probleme hatte, sondern auch sonst alles andere als das war, was man gemeinhin als »vertrauenswürdig« bezeichnen würde. Aber der eben auch nicht nur ihr früherer Mann, sondern immer noch ein Freund war, vielleicht der einzige, den sie wirklich hatte.
    Hör endlich auf, nach Rückendeckung zu suchen, dachte sie, vergiss alle professionellen Kategorien von Richtig oder Falsch, damit kommst du nicht weiter. Verlass dich auf dein Bauchgefühl und triff eine Entscheidung. Als wollte sie sich selbst davon überzeugen, dass sie sehr wohl in der Lage war, ihre Probleme auch ohne fremde Hilfe
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