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Schwesterlein muss sterben

Schwesterlein muss sterben

Titel: Schwesterlein muss sterben
Autoren: Freda Wolff
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in den Griff zu kriegen. »Ich weiß noch nicht, was du vorhast«, sagte sie laut, »aber wenn du ein Spiel mit mir spielen willst, dann bitte schön. Nur dass wir das nach meinen Regeln spielen!«
    Sie schickte eine SMS an Julia, in der sie um Rückruf bat. Dann checkte sie ihren Terminkalender, um sich zu vergewissern, dass sie bis zum frühen Nachmittag tatsächlich keine Sitzung haben würde.
    Die Handynummer, die sie jetzt brauchte, war auf dem Deckblatt des Aktenordners notiert. Während Merette die Ziffern drückte, merkte sie, wie ihr Magen sich schmerzhaft zusammenzog. Sie würde unbedingt noch etwas essen müssen, bezweifelte aber gleichzeitig, dass sie überhaupt in der Lage war, einen Bissen runterzukriegen. Ihr Magen fühlte sich an wie ein Stein.
    Als er sich meldete, spürte sie wieder das Frösteln in ihremRücken. Aber das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite, sie konnte deutlich hören, dass er irritiert war.

JULIA. Acht Stunden vorher
    Als Merette am Abend endlich zurückgerufen hatte, war Julia zu erleichtert gewesen, ihre Stimme zu hören, um irgendwelche Fragen zu stellen, für die sie ohnehin keine Begründung gehabt hätte. Jedenfalls nicht, solange sie nicht damit herausrücken wollte, dass sie die Bandaufzeichnung abgehört hatte: Auch wenn es nur ein Versehen gewesen war, so war es doch eindeutig ein Tabubruch – und Julia hatte keine Lust gehabt, sich auf eine Diskussion einzulassen, dass alles, was mit Merettes Beruf zu tun hatte, sie nichts anging.
    Julia hatte die Frage, die ihr auf der Zunge lag, also hinuntergeschluckt und stattdessen von ihrem Kunstprojekt an der Uni erzählt, bis sie sich beide eine gute Nacht gewünscht und wieder aufgelegt hatten. Aber irgendwie hatte sie die ganze Zeit über das Gefühl gehabt, dass ihre Mutter etwas auf dem Herzen hatte, mit dem sie nicht herausrückte. Da war zumindest ein Zwischenton gewesen, der Julia irritiert hatte.
    Und dann war gleich am Morgen, als Julia wieder in der Uni war, eine SMS von Merette gekommen: Ruf mich bitte an, wenn du einen Moment Zeit hast. Es ist wichtig.
    Und kaum, dass Julia sich gemeldet hatte, platzte Merette mit der Frage heraus: »Nur ganz kurz, Julia, entschuldige,wenn ich dich störe, aber warst du gestern in meinem Arbeitszimmer? Ich muss es wissen, es ist wichtig.«
    Julia verdrehte die Augen. »Hallo, Mama«, sagte sie und versuchte, nicht allzu genervt zu klingen. »Ich freue mich auch, von dir zu hören! Aber im Moment passt es wirklich nicht. Wir sind mitten in den Vorbereitungen für die Ausstellungseröffnung …«
    »Du hast ja recht, entschuldige! Ich bin nur gerade ein bisschen unter Druck. Gib mir bitte nur schnell eine Antwort: Warst du in meinem Arbeitszimmer?«
    »Ich hab mir nur die Amy Macdonald geholt, sonst nichts.«
    »Und du hast nicht …«
    »Nein, ich hab nicht in deinen Sachen rumgeschnüffelt, also reg dich wieder ab, ja?«
    Das grundsätzliche Problem war, dass es bei ihnen zu Hause so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz gab. Das Arbeitszimmer ihrer Mutter war die »no-go-area«, in der keiner außer ihr etwas zu suchen hatte. Das war schon immer so gewesen, auch als Jan-Ole noch bei ihnen wohnte. Merette legte größten Wert darauf, ihr Privatleben strikt von ihrem Beruf zu trennen. Das ging sogar so weit, dass Julia oder Jan-Ole sich nicht auf dem Treppenabsatz blicken lassen durften, wenn einer ihrer Patienten kam oder ging. Merettes Praxis hatte ein extra Klingelschild und eine separate Tür vom Treppenhaus aus, und die Verbindungstür von der Wohnung in die Praxis durfte nur geöffnet werden, wenn absolut sicher war, dass sie gerade keinen Patienten hatte. Und selbst dann durften sie höchstens den Kopf hineinstecken und so was sagen wie: »Das Essen ist fertig und wird langsam kalt.« Vielleicht wäre auch so waserlaubt gewesen wie: »Unsere Wohnung brennt gerade ab. Die Feuerwehr meint, du solltest jetzt besser mit raus auf die Straße.«
    Wobei nicht sicher war, ob Merette nicht auch dann nur kurz genickt und gesagt hätte: »Gebt mir noch zehn Minuten, ich will nur noch schnell den Artikel zu Ende schreiben.« Oder wahlweise: »Ich muss nur die Akte noch fertig machen, ich muss nur noch mal kurz telefonieren, ich muss nur noch den Vortrag für die Tagung überarbeiten.« Mit besonderer Betonung auf dem Wörtchen »nur«.
    Was immer sie sich dabei denken mochte, hätte sie es als Psychologin eigentlich besser wissen müssen, vor allem mit einer halbwüchsigen Tochter im
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