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Schwerelos

Schwerelos

Titel: Schwerelos
Autoren: Ildikó von Kürthy
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weiß nicht, wer von uns am lautesten schreit:
    Ich, als mir Leonie ihre Fingernägel so tief in die Handgelenke bohrt, dass ich denke, sie kommen auf der anderen Seite wieder raus.
    Oder Leonie, die beim Pressen Schmerzen hat, die stärker sind als die Narkose.
    Oder die Ärztin, die Leonie anfeuert wie ein Ostblock-Trainer seine rustikalste Kugelstoßerin.
    Oder unser Baby.
    Um fünf nach zehn hebt die Ärztin ein schmieriges, sich lauthals beschwerendes Ding in die Höhe – und genau in dem Moment kommen Erdal und Karsten in den Kreißsaal.
    «Herzlichen Glückwunsch, Herr Küppers, das ist ja nun wirklich ganz eindeutig Ihr Sohn!»
    Es gelingt Karsten gerade noch, Erdal aufzufangen.

    «Er ist wirklich besonders schön. Und das sage ich nicht nur, weil er mir so ähnlich sieht.»
    Erdal liegt auf Leonies Kreißsaalbett, hat das Baby auf seiner Brust und weint. Karsten sitzt rechts vom Baby und weint. Ich sitze links vom Baby und weine.
    Leonie sitzt am Fußende des Bettes, isst ein Käsebrötchen und betrachtet unseren kleinen Sohn. Er hat dichtes schwarzes Haar, lange dunkle Wimpern, gletscherblaue Augen, wunderschön olivfarbene Haut und, nun ja, er ist in der Tat etwas mopsig. Ein zweiter Erdal.
    Leonie schüttelt den Kopf: «Ich hätte schwören können, dass ich nicht mit Karim geschlafen habe. Aber diese Hasch-Kekse sind ja manchmal unberechenbar.»
    «Wer ist Karim?», schniefe ich.
    «War auf der Durchreise. Ein sehr hübscher Türke aus Bodrum, der unglaublich charmant und sehr lustig war und in den ich mich sofort verknallt habe.»
    «Das klingt tatsächlich sehr nach mir», schluchzt Erdal.
    «Er blieb leider nur eine Nacht und, wie gesagt, ich hatte gedacht, es sei nicht zum Äußersten gekommen. Am nächsten Morgen war er verschwunden, hatte mir aber seine Kette dagelassen, die ich den ganzen Abend bewundert hatte.»
    «Was war das für eine Kette?», fragt Karsten, sachorientiert wie immer, jedoch ohne die verweinten Augen von unserem Jungen zu lassen.
    «Nichts Besonderes eigentlich, ein Lederband mit einem Amulett daran von Joseph von Nazareth, dem Schutzpatron der Familien.»
    «Im Nachhinein doch sehr passend», meinte Erdal.
    Wir betrachten eine Weile lang schweigend das Kind, das Karim auf seiner Durchreise zurückgelassen hat, und danken im Stillen dem Schicksal und den fruchtbaren Lenden des Türken aus Bodrum.
    Unser Baby macht alles in Zeitlupe: die Augen öffnen und schließen, das Köpfchen drehen, den Mund aufsperren, die Fäuste ballen.
    Sein Blick ist einfach unglaublich. Er guckt wie einer, der schon alles gesehen hat, wie einer, der alles weiß. Unendlich weise. Unendlich ernst. Ein bisschen so wie Yoda aus «Star Wars».
    Und du schaust durch seine Augen in Tiefen und Weiten, die du noch nie zuvor gesehen hast. Und nein, das ist kein übertriebener Eso-Kitsch!
    Und ich muss schon wieder weinen. Erdal natürlich auch.
    «Darf ich ihn mal nehmen?», fragt Karsten schüchtern,und unser kleines Schätzchen liegt gemütlich in seinen riesigen Händen wie in einem extra angefertigten Körbchen. Er trägt immer noch sein St.-Pauli-Fan-Outfit von gestern Abend: ein Kopftuch mit Totenkopf drauf, und auf seinem T-Shirt steht «HSV? Was ist das?».

    Unser Baby schmatzt zufrieden. «Also wenn der kleine Goldi-Puschel auch nur ein bisschen nach mir kommt, hat er jetzt Hunger», sagt Erdal bewegt.
    Leonie nimmt den Jungen und legt ihn an die Brust. Karsten schaut weg. Ich schaue hin und denke, dass sich das Kinderkriegen definitiv lohnt, wenn man dafür ein halbes Jahr mit solchen Brüsten rumrennen darf. Das muss ja eine völlig neue Lebenserfahrung sein!
    Endlich würden mir Männer mal ins Dekolleté schauen statt immer nur in die Augen. Ich müsste nichts Kluges mehr sagen, nicht schlagfertig oder lustig sein. Ich könnte einfach nur dastehen, das Kreuz durchdrücken, und meine Brüste würden den Rest erledigen. Ich glaube nicht, dass ich eine Ausbildung gemacht, einen Beruf ergriffen oder eigenen Humor entwickelt hätte, wäre ich mit zwei Körbchengrößen mehr auf die Welt gekommen.
    In der «Vanity Fair» habe ich das Zitat eines brasilianischen Schönheitschirurgen gelesen: «Mit Körbchengröße C lassen sich durchaus ein paar Jahre Studium ersetzen.» Hab ich’s doch gewusst. Das funktioniert, wie wir traurigerweise alle wissen, leider nicht andersherum: Bildung ersetzt keine Brüste. Wegen deines «Summa cum laude» lädt dich garantiert kein Unbekannter mit Hintergedanken auf
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