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Schwarzes Prisma

Schwarzes Prisma

Titel: Schwarzes Prisma
Autoren: Brent Weeks
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Unmöglich, es zu wandeln. Natürlich. Sein Bruder hatte an alles gedacht. Aber das hatte er ja immer getan.
    Der Gefangene saß neben dem Abfluss und begann zu essen. Der Kerker war wie ein unterseits nicht ganz flachgedrückter Ball geformt: die Wände und die Decke eine perfekte Kugel, der Boden nur sanft zur Mitte hin abfallend. Die Wände leuchteten von innen heraus, und jede Oberfläche gab Licht von der gleichen Farbe ab. Der einzige Schatten im Kerker war der Gefangene selbst. Es gab nur zwei Löcher: die Rutsche oben, durch die sein Essen und ein stetes Rinnsal Wasser kamen, das er auflecken musste, um Feuchtigkeit aufzunehmen, und das Abflussrohr unten für seine Exkremente. Er hatte keine Gegenstände, keine Werkzeuge außer seinen Händen und seiner Willenskraft. Mit seiner Willenskraft konnte er aus dem Blau alles wandeln, obwohl es sich auflöste, sobald seine Willenskraft es freisetzte, so dass nur Staub und ein schwacher Geruch nach Mineralien und Harzen zurückblieben.
    Aber heute würde der Tag sein, an dem seine Rache begann, sein erster Tag in Freiheit. Dieser Versuch würde nicht scheitern – er weigerte sich, sein Unternehmen auch nur als einen »Versuch« anzusehen –, und auf ihn wartete Arbeit. Die Dinge mussten in der richtigen Reihenfolge getan werden. Er konnte sich jetzt nicht mehr daran erinnern, ob er immer so gewesen oder ob er nur so lange in Blau getränkt war, dass die Farbe ihn grundlegend verändert hatte.
    Er kniete neben dem einzigen Teil der Zelle, der nicht das Werk seines Bruders war. Eine einzige, flache Vertiefung im Boden, eine Schale. Zuerst rieb er mit nackten Händen über die Schale und massierte die korrosiven Hautausscheidungen von seinen Fingerspitzen in den Stein, solange er es wagte. Narbengewebe brachte keine Ausscheidungen hervor, daher musste er aufhören, bevor er sich die Finger wundrieb. Er kratzte mit zwei Fingernägeln über die Furche zwischen seiner Nase und seiner Stirn, mit zwei anderen über die Haut hinter seinen Ohren und am Kopf, um mehr Hautausscheidungen zu sammeln. Wo immer auf seinem Körper er etwas von dieser Schmiere aus Talg und Fett und abgestorbenen Zellen fand, rieb er es in die Schale. Nicht dass es eine wahrnehmbare Veränderung gegeben hätte, aber im Laufe der Jahre war seine Schale zwei Fingerglieder tief geworden. Sein Kerkermeister hatte die farbverschlingenden Höllensteine im Muster eines Gitternetzes im Boden verteilt. Was immer groß genug wurde, um eine der Linien dieses Netzes zu berühren, verlor beinahe schlagartig jede Farbe. Aber Höllenstein war außerordentlich teuer. Wie tief reichten die Linien also in den Boden hinein?
    Wenn das Gitter nur einige Daumenbreit in die Tiefe reichte, könnten seine wunden Finger es jeden Tag hinter sich lassen. Die Freiheit würde dann nicht mehr weit sein. Aber wenn sein Kerkermeister so viel Höllenstein benutzt hatte, dass die sich überkreuzenden Linien dreißig Zentimeter tief in den Boden reichten, dann hatte er sich fast sechstausend Tage lang für nichts und wieder nichts die Finger wundgerieben. Er würde hier sterben. Eines Tages würde sein Bruder herunterkommen, die kleine Vertiefung im Boden der Zelle sehen – die einzige Spur, die er in der Welt hinterlassen hatte – und lachen. Mit dem Widerhall dieses Lachens in den Ohren glomm ein kleiner Funke des Zorns in seiner Brust auf. Er blies in diesen Funken hinein und schwelgte in seiner Wärme. Es war Feuer genug, um ihm zu helfen, weiterzumachen, genug, um dem beruhigenden, entkräftenden Blau hier unten entgegenzuwirken.
    Als er fertig war, urinierte er in die Schale. Und schaute zu. Für einen Augenblick wurde das verfluchte blaue Licht, gefiltert durch das Gelb seines Urins, von grünen Schlieren durchzogen. Ihm stockte der Atem. Die Zeit dehnte sich, während das Grün grün blieb … grün blieb. Bei Orholam, er hatte es geschafft. Er war tief genug gekommen. Er hatte das Gitternetz des Höllensteins durchdrungen!
    Und dann verschwand das Grün. In genau den gleichen zwei Sekunden, die es jeden Tag dauerte. Er schrie seine Enttäuschung heraus, aber selbst seine Enttäuschung war schwach, und sein Schrei diente mehr dazu, sich selbst zu versichern, dass er noch hören konnte, als echtem Zorn Luft zu machen.
    Der nächste Teil trieb ihn immer noch in den Wahnsinn. Er kniete sich neben die Vertiefung. Sein Bruder hatte ihn in ein Tier verwandelt. In einen Hund, der mit seinem eigenen Kot spielte. Aber dieses
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