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Schwarzes Prisma

Schwarzes Prisma

Titel: Schwarzes Prisma
Autoren: Brent Weeks
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diesem Zweck an der Wand hängen hatte.
    Es war perfekt. Natürlich – denn er machte das jeden Morgen seit fast sechstausend Tagen. Seit fast sechzehn Jahren. Eine lange Zeit für einen Mann, der erst dreiunddreißig Jahre alt war. Er goss den Wein über die aufgebrochenen Brothälften und färbte sie blau. Einmal die Woche bereitete Gavin einen blauen Käse oder eine blaue Frucht zu, aber das erforderte mehr Zeit.
    Er griff nach dem Brief aus Tyrea.
    »Ich sterbe, Gavin. Es wird Zeit, dass du deinen Sohn Kip kennenlernst. – Lina«
    Sohn? Ich habe keinen …
    Plötzlich war seine Kehle wie zugeschnürt, und seine Brust fühlte sich an, als verkrampfe sich sein Herz, auch wenn die Chirurgen sagten, dass dem nicht so sei. Entspannt Euch einfach, sagten sie. Ihr seid jung und stark wie ein Streitross. Sie sagten nicht, reißt Euch zusammen! Ihr habt jede Menge Freunde, Eure Feinde fürchten Euch, und Ihr habt keine Rivalen. Ihr seid das Prisma. Wovor habt Ihr Angst? Seit Jahren schon hatte niemand mehr so mit ihm gesprochen. Manchmal wünschte er, jemand würde es tun.
    Orholam, der Brief war nicht einmal versiegelt gewesen.
    Gavin trat auf seinen gläsernen Balkon hinaus und überprüfte unterbewusst sein Wandeln, wie er es jeden Morgen tat. Er starrte auf seine Hand, zerlegte Sonnenlicht in dessen Spektralfarben, wie nur er es vermochte, und füllte jeden Finger abwechselnd mit einer Farbe, von einem unsichtbaren Ende des Spektrums bis zum anderen: Infrarot, Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Ultraviolett. Hatte er eine Störung gespürt, als er Blau gewandelt hatte? Er überprüfte es ein zweites Mal und schaute kurz in die Sonne.
    Nein, es war immer noch einfach, Licht zu zerlegen, es ging immer noch anstandslos. Er ließ das Luxin sich lösen, und jede Farbe glitt unter seinen Nägeln hervor und löste sich auf wie Rauch. Zurück blieb nur das vertraute Bouquet harziger Düfte.
    Er hielt das Gesicht in die Sonne, deren Wärme wie die Liebkosung einer Mutter war. Gavin öffnete die Augen und sog ein warmes, wohltuendes Rot ein. Ein und aus, im Rhythmus seiner gequälten Atemzüge, während er ihnen befahl, langsamer zu werden. Dann ließ er das Rot los und nahm ein tiefes Eisblau auf. Es fühlte sich an, als gefröre es seine Augen. Wie immer brachte das Blau Klarheit, Frieden, Ordnung. Aber keinen Plan, nicht mit so wenigen Informationen. Er ließ die Farben los. Es ging ihm immer noch gut. Er hatte immer noch mindestens fünf seiner sieben Jahre übrig. Reichlich Zeit. Fünf Jahre, fünf große Ziele.
    Nun, vielleicht nicht fünf große Ziele.
    Trotzdem, von seinen Vorgängern in den letzten vierhundert Jahren – abgesehen von denen, die ermordet worden oder aus anderen Gründen gestorben waren – hatten die übrigen genau sieben, vierzehn oder einundzwanzig Jahre gedient, nachdem sie Prisma geworden waren. Gavin hatte es länger als vierzehn geschafft. Also, reichlich Zeit. Kein Grund zu denken, er würde die Ausnahme sein. Jedenfalls gab es nicht viele Gründe dafür.
    Er griff nach dem zweiten Brief. Er brach das Siegel der Weißen auf – die alte Vettel versiegelte alles, obwohl sie die andere Hälfte dieses Stockwerks bewohnte und Karris ihre Nachrichten persönlich überbrachte. Aber alles musste an seinem geziemenden Ort sein und geziemend getan werden. Ihre blaue Herkunft war unverkennbar.
    Die Weiße schrieb: »Wenn Ihr es nicht vorzieht, die Schüler zu begrüßen, die heute am späten Vormittag eintreffen, mein lieber Lord Prisma, findet Euch bitte bei mir auf dem Dach ein.«
    Gavin blickte über die Gebäude der Chromeria und die Stadt hinweg und betrachtete die Handelsschiffe in der geschützten Bucht von Großjasper. Ein offensichtlich recht mitgenommener atashischer Einmaster lief gerade ein Pier an, um dort festzumachen.
    Neue Schüler begrüßen. Unglaublich. Es war nicht so, dass er sich zu schade war, um neue Schüler zu begrüßen – nun, eigentlich war es doch so. Er, die Weiße und das Spektrum sollten ein Gleichgewicht bilden. Aber obwohl das Spektrum ihn mehr fürchtete als die Weiße, bekam die alte Vettel ihren Willen häufiger als Gavin und die sieben Farben zusammen. Heute Morgen hatte sie wieder mit ihm experimentieren wollen, und wenn er etwas Lästigeres als das Unterrichten vermeiden wollte, sollte er sich besser oben im Turm einfinden.
    Gavin wandelte sein rotes Haar zu einem strammen Pferdeschwanz und zog die Kleider an, die seine Kammersklavin für ihn herausgelegt
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