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Schwarzer Tanz

Schwarzer Tanz

Titel: Schwarzer Tanz
Autoren: Tanith Lee
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Notfall. Vielleicht war auf der Straße ein Unfall passiert. Wahrscheinlich hatte sie das Quietschen der Bremsen über dem Sturm der Beethovensinfonie und der lauten Rockmusik aus der Wohnung unter ihr einfach überhört.
    » Hallo?«
    » Miss Day?«
    Sie konnte die blecherne Stimme nicht durch die Sprechanlage erkennen.
    » Was wollen Sie?«
    » Miss Day, ich bin Mister Soames von Lane und Soames. Wären Sie bitte so freundlich, mich einzulassen?«
    » Ich glaube nicht.«
    » Aber Miss Day, ich habe wirklich alles getan, um Sie in dieser sehr dringenden Angelegenheit sprechen zu können. Es handelt sich um eine äußerst dringliche Sache, Miss Day …«
    » Nein, Mister Soames, ich bin nicht interessiert.«
    » Mein Klient, Mister Simon, hat mich autorisiert …«
    » Auf Wiedersehen, Mister Soames.«
    Es läutete noch dreimal, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte.
    Rachaela lief in ihrem winzigen Zimmer auf und ab. Einen Stock höher befanden sich ein noch winzigerer Schlafraum und ein Schrank, den man zum Bad umfunktionieren konnte – diese zwergenhafte, teure Wohnung hatte sie sich nur dank der Ersparnisse ihrer Mutter leisten können; was, wenn diese aufgebraucht waren?
    Vielleicht hatte Mister Soames ihr Geld anzubieten?
    Geld war etwas, über das sich Rachaela keine Gedanken machte. Teilweise fürchtete sie sich auch davor, es brachte Verantwortung mit sich, verursachte so viele Probleme und richtete so viel Schaden an. Aber immerhin.
    Der Türsummer war verstummt.
    Mister Soames war gegangen.
    Am Sonntagnachmittag nahm sie ein langes Bad, während sie einem Hörspiel im Radio lauschte. Sie rasierte ihre Beine und ihre Achselhöhlen, wusch ihr Haar, wie alle drei Tage, und ließ es unter der künstlichen tropischen Hitze ihres Föhns trocknen. Sie liebte dieses Ritual. Als sie noch ein Kind war, hatte ihre Mutter ihr Haar nur alle vierzehn Tage gewaschen.
    Draußen durchdrangen Regentropfen den gelben Nebel. Zum Abendessen gab es Lammkoteletts, und sie musste während des Essens daran denken, was für eine wundervolle, weiße, wollige Kreatur das einmal gewesen war. Der Gedanke verursachte ihr keine Übelkeit, er stimmte sie nur ein wenig traurig. Sie genoss das Lammfleisch dadurch irgendwie noch mehr, weil ihr gefiel, was es einmal gewesen war, und weil sie Mitleid empfand. Im Teenageralter hatte sie einmal versucht, sich rein vegetarisch zu ernähren, doch sie hatte daraufhin ganz fürchterlich erbrochen und wochenlang mit schrecklichen Magenschmerzen im Bett gelegen. Danach hatte sie es aufgegeben.
    Ihre Mutter hatte über ihren Versuch gelacht. Sie hatte Rachaela einen Teller mit verbrannten Fischstäbchen vorgesetzt.
    » Hör auf mit diesem Blödsinn.«
    Ihre Mutter hatte sie ganz alleine aufziehen müssen.
    Sie dachte zu viel an ihre Mutter.
    Es schmerzte nicht, aber es beunruhigte sie.
    Sie hatte sich nie von ihrer Mutter verabschieden können, vielleicht war das ihr eigentliches Problem. Das Freiheitsgefühl war nur etwas Spontanes gewesen. Vielleicht hätte sie der einbalsamierten Leiche einen Abschiedskuss auf die Augenbraue drücken sollen, wie in einem der etwas gefühlvolleren, altmodischen Horrorfilme. Der einbalsamierte Leichnam hatte nicht wie ihre Mutter ausgesehen. Irgendetwas war schiefgelaufen, sie hatten den ziemlich mächtigen Bauch ihrer Mutter in den Sarg gequetscht, so dass sie auf eine Art und Weise korpulent und matronenhaft wirkte, wie das im wirklichen Leben nie der Fall gewesen war. Das Rouge auf ihren Wangen war fleckig. Sie war nicht tot, sie schlief nur – nein: Gewiss war sie tot.
    Sie vermisste die Katze, die gewöhnlich am Rand von Rachaelas Badewanne gehockt und das Wasser manchmal voller Verwunderung mit der Pfote berührt hatte. Oder sie hatte einfach dekorativ auf dem Tisch gesessen, hatte nie gebettelt.
    Vielleicht sollte sie sich einen lukrativeren Job suchen. Wo? Wer würde sie schon nehmen? Sie hatte keinerlei Erfahrung. Sie war neunundzwanzig. Sollte sie jetzt wieder in einem Weinlokal arbeiten? Sie dachte an den Lärm und das Gedränge, die zerbrochenen Gläser und die Betrunkenen. Nein, die Buchhandlung war sicher. Die hatte immerhin das Kotelett bezahlt.
    Rachaela seufzte.
    Hinter den Vorhängen ließ der Nebel endlich nach. Sie konnte über die Wiese auf einen glänzenden Sonntagsbus blicken, der sich träge in westlicher Richtung bewegte.
    Am Montagmorgen lief Rachaela eine klare graue Lizardstreet entlang auf die schwarzen Löwen zu. Sie betrat das
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