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Schwarzer Tanz

Schwarzer Tanz

Titel: Schwarzer Tanz
Autoren: Tanith Lee
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öffnete die Akte vor ihr und deutete auf die umfangreiche Korrespondenz, viele große Blätter mit sauber geschriebenen Daten in etwas mangelhafter Schreibmaschinenschrift und handgeschriebene Briefe auf neutralem, weißem Papier. Rachaela konnte Handgeschriebenes überhaupt nicht lesen. Möglicherweise war ihr auch nur dessen Intimität zuwider. Sie warf einen kurzen Blick auf die unleserliche Adresse der handgeschriebenen Blätter und zog die Augenbrauen hoch, um Soames konzentriertes Interesse vorzuspielen. Sie verhielt sich nicht, wie er es erwartet hatte. Sie fühlte sich in die Ecke gedrängt. In diesem Raum pirschte sich der Leopard an sie heran. Hatte sie schon immer gefürchtet, dass diese Leute ihr eines Tages zu nahekommen würden? Warum war dieser Gedanke so schrecklich für sie? Denn das war er, einfach entsetzlich. Ihre Mutter hatte die Familie immer schlechtgemacht, obwohl sie rein gar nichts von ihr wusste. Diese Leute standen hinter ihrem Liebhaber, und sie machte sie aus Bequemlichkeit für dessen Verschwinden verantwortlich. Als Rachaela noch ein Kind gewesen war, musste sie ihr Horrorgeschichten erzählt haben, die jetzt zu tief in ihrer Erinnerung vergraben lagen, als dass sie ans Licht kommen könnten, eingebettet in Rachaelas Unterbewusstsein wie schwarze Fossilien. Denn sie hatte Angst vor der Sippe der Scarabae.
    » Nein, Mister Soames. Es tut mir sehr leid. Ich glaube nicht, dass Ihre Klienten ehrlich gewesen sind, weder zu Ihnen noch zu mir. Wenn sie Verwandte meines Vaters sind, dann besteht für sie wirklich kein Anlass, an mir interessiert zu sein. Ich habe ihn nie kennengelernt. Ich kann Ihnen nicht helfen. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«
    Rachaela erhob sich. » Ich hoffe, dass ich jetzt in Frieden gelassen werde.«
    » Ich bedaure Ihren Standpunkt, Miss Day.«
    Er klang reserviert und verärgert, er hatte verloren.
    Rachaela verließ das Büro und kam an der Sekretärin vorbei, die ihr Gesicht zu einem unechten Lächeln verzog.
    Der Lift schnellte abwärts.
    Draußen regnete es. Ich muss das Ganze jetzt einfach abschütteln. Doch das konnte sie nicht. Der Leopard, unsichtbar im Hellen wie im Dunkeln, folgte ihr immer noch auf den Fersen.
    » Sie kommen zu spät, Rachaela«, sagte Mister Gerard. » Eine Dreiviertelstunde. Das ist wirklich zu viel. Ich hatte hier einen ziemlichen Andrang, zehn Leute auf einmal, und wo waren Sie?«
    » Ich war bei Lane und Soames.«
    » Dann gibt es also einen Grund zum Feiern?«, schrie Mister Gerard.
    Rachaela verabscheute seinen Ausbruch, hatte jedoch nichts anderes von ihm erwartet.
    » Das Ganze war ein Missverständnis«, sagte sie. » Diese Leute haben nichts mit mir zu tun.«
    » Jammerschade. So ein Pech.«
    In dieser Woche verhielt sich Rachaela wie gewohnt, sie pendelte zwischen der Buchhandlung und ihrer Wohnung hin und her, erledigte ihre kleinen Einkäufe, aß in einer kleinen Imbissbude, und ging einmal ins Kino, um einen sehr bunten, gewalttätigen Film zu sehen, der sie langweilte. Sie kaufte drei Bücher, Haarshampoo, Zahnpasta und Orangen, und während all dieser Unternehmungen haftete der Geruch des Leoparden in ihrer Nase. Er war immer noch da.
    Sie spürte eine immer stärkere Anspannung, fühlte sich wie eine zu stramm gezogene Saite einer Gitarre.
    Sie empfand keine Freude über die Musik, die sie hörte. Die aus den anliegenden Wohnungen kommenden Geräusche irritierten sie; eines Nachts fand dort sogar bis vier Uhr morgens eine Party statt, und sie lag wach, unfähig zu lesen, da ihr die Wörter vor den Augen verschwammen und der Sinn verlorenging.
    Es war ihr plötzlich ein Gräuel, wenn ein Kunde den Laden betrat. Jedes Mal erwartete sie entweder den Mann im Überzieher oder den Hofnarren der Anwälte, oder sogar Soames höchstpersönlich. Aus irgendeinem Grund fürchtete sie jedoch nie einen Besuch der schrecklichen Scarabaesippe. Nein, die erledigten ihre Geschäfte aus der Entfernung. Der Name dieses unbekannten Landes in so dünnen, unleserlichen Buchstaben auf das weiße Papier gekritzelt. Ich warte auf noch etwas.
    Aber was? Was könnte schon passieren? Sie hatte abgelehnt. Es war vorbei.
    Freitagmorgen lag ein Brief auf dem staubigen Tisch, einer von sechs identischen Umschlägen von ihrem Hausbesitzer. In diesem Brief teilte man ihr mit, dass die Straße erweitert oder renoviert oder irgendwie von oben nach unten gekehrt werden sollte, und dass sie binnen sechs Monaten eine andere Bleibe finden müsse.
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