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Schwarzer Purpur

Schwarzer Purpur

Titel: Schwarzer Purpur
Autoren: Susanne Wahl
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seltsam tröstlich. Er erinnerte mich an Säulenzypressen, die weicheren Pflanzen einen festen Rahmen und Orientierung bieten.
    Das Gesteck aus weißen Callas und Misteln war Mutters spezieller Wunsch gewesen. Als ich das nüchterne Stück Papier aus dem Umschlag in ihrer Nachttischschublade gezogen hatte, war mein spontaner Gedanke gewesen: »Wie passend!« Besonders Callas wirken in ihrer Perfektion so unnatürlich, dass man immer versucht ist, sich durch eine Berührung zu vergewissern, dass sie keine Nachbildungen aus Plastik sind. Ihnen scheint jedes Leben zu fehlen. Selbst der Prozess des Welkens läuft nahezu im Geheimen ab: Am Abend sehen sie noch makellos aus, am nächsten Morgen hat sich das schneeweiße Blütenblatt braun vertrocknet zusammengerollt, als hätte es nie gelebt.
    Misteln, die vom Saft der Bäume leben, auf denen sie wachsen, hatten mit Mutter einiges gemeinsam: Auch sie hatte auf mir gelebt, durch mich, mich erstickend. Hatte es eine Zeit in meinem Leben gegeben, in dem ich mich nicht ununterbrochen von ihrem aufmerksamen Blick, der jede Verfehlung gnadenlos aufzudecken pflegte, beobachtet gefühlt hatte? Als Kind war ich überzeugt davon gewesen, dass sie nicht nur über versteckte Augen am Hinterkopf, sondern auch über hellseherische Fähigkeiten verfügte. Das einzige Mal, dass ich es gewagt hatte, meine Ballettstunde zu schwänzen, um mit meiner Schulfreundin den kleinen Wanderzirkus zu besuchen, der in unserer Stadt Station machte, hatte sie es mir bereits an der Haustür angesehen. Zur Strafe hatte ich meinen Lieblingsteddy dem Kinderheim spenden müssen. Wochenlang weinte ich mich in den Schlaf, weil ich ohne meinen Kameraden den schrecklichen Ungeheuern, die nachts mein Zimmer aufsuchten, hilflos ausgeliefert war. Ich wagte es niemals wieder, offen oder heimlich, entgegen Mutters Anweisungen zu handeln.
    Ich ging auf die Realschule, obwohl meine Lehrerin alles versuchte, meine Mutter dazu zu überreden, mich auf das Gymnasium gehen zu lassen. Die Lehrer schätzten mich als fleißige, unauffällige Schülerin – eine, bei der keine Elterngespräche notwendig waren. In den Augen meiner Mitschüler war ich eine langweilige Streberin, uninteressant. Ich beneidete sie glühend um die Freiheit, sich nach Lust und Laune treffen zu können. Sie luden mich nie dazu ein, aber Mutter hätte es mir sowieso nicht erlaubt.
    Mein Tagesablauf war vom Aufstehen bis zum Schlafengehen rigoros geregelt: Sobald ich aus der Schule kam, gab es Mittagessen, Abwasch, Hausaufgaben. Drei Nachmittage in der Woche musste ich in die Ballettstunde. Besonders begabt war ich nicht, aber ständige Übung führte auch bei mir zu Soloauftritten. An solchen Abenden zog Mutter ihr bestes Kostüm an und setzte sich in die erste Reihe.
    Samstags war Hausputz, und am Sonntag gingen wir vormittags in die Kirche und am Nachmittag spazieren. Seltsamerweise waren es diese Spaziergänge, die mir eine unerwartete Möglichkeit eröffneten, in eine eigene Welt zu flüchten.
    Es war ein Sonntag im Mai, die Wiesen hatten sich mit einem faszinierenden Blütenteppich überzogen, aus dem hier und da ein strahlendes Hellblau leuchtete. Plötzlich wollte ich wissen, wie diese besondere Blume hieß. Sie besaß doch sicher einen Namen? Mutter wusste ihn nicht, aber zu meiner maßlosen Verblüffung lag zwei Wochen später auf meinem Geburtstagstisch, zwischen den üblichen Garnituren Unterwäsche und dem Geburtstagskuchen, ein dickes Bestimmungsbuch. Was blüht denn da? war meine Eintrittskarte in die Welt der Botanik.
    Von einem Tag auf den anderen hatte sich mein Sehen verändert. Meine Augen glitten nicht mehr gleichgültig über das Farbkaleidoskop, sie nahmen Einzelheiten auf, die ich vorher zwar gesehen, aber nicht wahrgenommen hatte. Augentrost, Klappertopf, Wiesensalbei, Günsel – die Vielzahl der Pflanzen und Namen verwirrte mich, doch mit der Zeit wurden sie mir alle vertraut. Und ich begann, sie Bekannten zuzuordnen. Unsere Englischlehrerin erinnerte mich an den Wiesenstorchschnabel: schöne, blaue Blüten, aber keine Standfestigkeit. Der Deutschlehrer dagegen war eine typische Buche: geradlinig, berechenbar und hart. Meine Banknachbarin versah ich mit dem Etikett Gänsedistel. Sie wirkte auf den ersten Blick nett und umgänglich, aber man kam ihr besser nicht zu nah. Nach dem Schulabschluss absolvierte ich lustlos, aber pflichtschuldig die Banklehre, die meine Mutter für mich geplant hatte. Es gab kein Entkommen in ein Leben,
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