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Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)

Titel: Schwarze Sekunden: Roman (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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das Fenster.
    »Es gefällt mir nicht, daß es regnet«, sagte er.
     
    Plötzlich schrillte die Türglocke durch das Haus. Helga starrte ihre Schwester entsetzt an, ihre Augen leuchteten vor Angst fast metallisch. Es war spätnachts. Eine wahnwitzige Mischung aus Furcht und Hoffnung jagte durch ihren Leib.
    »Ich mache auf!« rief Ruth und stürmte hinaus. Sie zitterte, als sie auf die Klinke drückte. Auf der Treppe stand Idas Vater.
    »Anders«, sagte sie mit schwacher Stimme.
    Sie starrte ihn an und wich zurück.
    »Ist sie gefunden worden?« fragte er.
    Sein Gesicht war vor Sorge verzerrt.
    »Nein. Wir warten.«
    »Ich will heute nacht hierbleiben«, sagte Anders energisch. »Ich kann auf dem Sofa schlafen.«
    In seiner Stimme lag ein heftiger Trotz. Ruth wich in den Flur zurück. Helga hörte seine Stimme und machte sich hart. Sie spürte so viele Empfindungen. Erleichterung und Wut zugleich. Da kam er auf sie zu. Ein magerer Mann mit schütteren Haaren. Sie erkannte seinen alten grauen Mantel und einen Pullover, den sie einmal für ihn gestrickt hatte. Es fiel ihr schwer, seinen Blick zu erwidern. Sie konnte seine Verzweiflung nicht ertragen, sie hatte nur Platz für ihre eigene.
    »Leg dich ins Bett, Helga«, bat er. »Ich passe auf das Telefon auf. Hast du etwas gegessen?«
    Er streifte seinen Mantel ab und warf ihn über eine Sessellehne. Er benahm sich wie zu Hause. Er hatte mehrere Jahre in diesem Haus gewohnt.
    Ruth stand in einer Ecke. Hatte das Gefühl, sich verkriechen zu wollen.
    »Dann fahr ich jetzt«, sagte sie mit gesenktem Blick. »Aber du mußt mich anrufen, wenn etwas passiert, Anders.«
    Sie hatte es jetzt sehr eilig. Streichelte Helgas Rücken, riß ihren Mantel vom Haken im Gang und jagte aus dem Haus. Fuhr so schnell sie konnte zu ihrem Haus in Madseberget. Die Gedanken rasten durch ihren Kopf.
    Der Regen war heftig, die Scheibenwischer fuhren wütend über das Glas. Ihre Feigheit nahm ihr den Mut. Sie war so erleichtert gewesen, als Anders auf der Treppe stand und sie erkannte, daß sie jetzt gehen konnte. Den ganzen Abend hatte sie eine entsetzliche, bodenlose Angst verspürt. Aber die hatte sie nicht an sich heranlassen können. Sie mußte stärker sein als Helga. Jetzt, wo Anders bei Helga war, kam die Angst in ihr hoch und verschlug ihr den Atem. Sie wollte von dem Allerschlimmsten verschont bleiben. Dem endgültigen Anruf, der entsetzlichen Mitteilung: »Wir haben sie gefunden.« Jetzt mußte Anders damit fertig werden. Ich bin feige, dachte sie und wischte sich ihre Tränen ab.
    Sie hielt in der Doppelgarage und stellte fest, daß ihr Sohn Tomme noch nicht zu Hause war. Sie schloß die Tür auf und lief die Treppe in den ersten Stock hoch. Ihre Tochter Marion lag schlafend im Bett. Ruth blieb stehen und betrachtete Marions runde Wangen. Die waren heiß und rot. Danach saß sie am Wohnzimmerfenster und wartete auf ihren Sohn. So, wie ihre Schwester stundenlang auf Ida gewartet hatte, ging es ihr auf. Tomme kam später als sonst. Sie empfand einen Hauch derselben Angst, beruhigte sich aber damit, daß Tomme erwachsen war. So zu sitzen, dachte sie, und niemals kommt jemand. Es war unvorstellbar. Was, wenn Marion so verschwände? Was, wenn sie nie mehr die Reifen von Tommes Opel hörte? Sie versuchte, sich Stunde um Stunde des Wartens vorzustellen. Daß die Reifengeräusche, auf die sie wartete, ausblieben. Daß sie früher oder später auf ein anderes Geräusch warten mußte, das Klingeln des Telefons. Sie wählte Tommes Mobilnummer, doch das Telefon war ausgeschaltet. Als er endlich kam, staunte sie darüber, daß er nicht ins Wohnzimmer schaute, sondern sofort nach oben in sein Zimmer lief. Er mußte doch durch das Fenster Licht gesehen und begriffen haben, daß sie noch auf war. Sie blieb zwei Minuten sitzen und dachte nach. Hatte Angst vor dem, was sie würde sagen müssen. Dann ging sie auch nach oben. Trat in seine Zimmertür. Er hatte den Computer eingeschaltet. Hatte das Gesicht abgewandt und die Schultern hochgezogen. Seine ganze Gestalt drückte Mißmut aus.
    »Was ist los?« fragte sie rasch. »Du bist so schrecklich spät.«
    Er räusperte sich. Und schlug mit der Faust auf die Tischplatte.
    »Ich hab das verdammte Auto eingebeult«, sagte er ärgerlich.
    Ruth dachte über diese Antwort nach. Sie dachte an alles, was passiert war, und musterte den schmalen, wütenden Rücken. Plötzlich war sie ebenfalls wütend. Alles brach aus ihr heraus, und sie konnte nichts dagegen
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