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Schwarz auf Rot

Schwarz auf Rot

Titel: Schwarz auf Rot
Autoren: Qiu Xiaolong
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Massenkritik« gemeint sein, auf die man Yang als Schwarzen gezerrt und ihm eine Tafel mit seinen »Verbrechen« um den Hals gehängt hatte. Yangs Darstellung war jedoch so allgemein geha l ten, daß ein Leser, der mit dessen persönlichen Erfahru n gen nicht vertraut war, zu einer völlig anderen Interpretation g e langen konnte. Es bedurfte einer so unpersönlichen D i stanz, um Hamlet, in Anlehnung an einen and e ren großen Dichter, im wüsten Land darzustellen.
    Chen spürte eine starke Affinität zu diesem Gedicht. Schließlich mußte man seine Rolle spielen, egal welche Bedeutungen oder Interpretationen ihr zugeschrieben wurden; so auch die Rolle eines Oberinspektor Chen.
    Erstaunlicherweise hatte das Romanmanuskript keinen Titel. Chen fand, es könnte »Doktor Schiwago in China« heißen. Er schwor sich, Wege zu finden, um dieses M a nuskript irgendwann zu veröffentlichen. Er sah darin ke i nen Widerspruch zu seinen politischen Verpflichtungen als Parteikader. Wie Boris Pasternak hatte auch Yang sein Land leidenschaftlich geliebt. Der Roman war keine Kritik an China. Es war vielmehr der standhafte Versuch eines ehrlichen, patriotischen Intellektuellen, seine Ideale auch zu Zeiten aufrechtzuerhalten, in denen in seinem Land alles drunter und drüber ging. Es war ein mit großer Leidenschaft und in meisterhaftem Stil verfaßter Roman. China konnte stolz sein, daß ein solch exzellentes liter a risches Werk in einem der düstersten Momente seiner Geschichte entstanden war. So zumindest sah es Chen.
    Allerdings bestand kein Anlaß zu unüberlegter Hast oder u nnötigen Risiken. Der Roman war vor Jahren a b geschlossen worden und hatte nichts an Überzeugung s kraft eingebüßt. Erstklassige Literatur war keine verder b liche Ware; es wäre demnach kein Schaden, wenn das Manuskript noch einige Jahre unveröffentlicht bliebe.
    Die Staatssicherheit war noch immer wachsam. Sie hatte sich eingehend erkundigt, wie der Oberinspektor und sein Partner das Manuskript aufgespürt hatten. Als Antwort hatte Chen schlicht auf Yus gründliche Arbeit bei der Suche nach Bao und bei dessen Vernehmung verwiesen. Er hatte betont, daß sie Bao und das Man u skript anschließend sofort dem Präsidium überstellt hä t ten. Da die Pressekonferenz für den nächsten Tag ang e setzt war, konnten sie sich keine weiteren Verzögerungen mehr leisten.
    Natürlich hatte er dabei nicht erwähnt, daß er das M a nuskript für etwa zwei Stunden in Händen gehabt und diese genutzt hatte, um es Seite für Seite in einem nahe gelegenen Copy-Shop zu kopieren, bevor er es in Baos Zimmer zurückbrachte. Seine Geschichte klang plaus i bel, aber er war mit der Staatssicherheit nie auf gutem Fuß gestanden und mußte daher vorsichtig sein.
    So wie China sich derzeit wandelte, war es durchaus denkbar, daß eine Publikation von Yangs Roman in fünf bis zehn Jahren nicht mehr unmöglich wäre …
    »Oberinspektor Chen.« Wieder sprach ihn die junge Schwester an, diesmal unten in der Halle.
    »Ach ja, wie geht es ihr?«
    »Alles in Ordnung, sie schläft noch«, antwortete sie. »Aber wenn sie wieder zu Hause ist, müssen Sie mehr darauf achten, was sie ißt.«
    »Das werde ich«, sagte er.
    »Ihr Cholesterinspiegel ist nach wie vor zu hoch. Die teuren Delikatessen auf ihrem Nachttisch werden ihr nicht guttun.«
    »Ich verstehe«, sagte er. »Einige meiner Freunde sind wirklich unverbesserlich.«
    »Sie muß sehr stolz sein auf ihren erfolgreichen Sohn mit seinen vielen einflußreichen Freunden.«
    »Nun, da fragen Sie sie am besten selbst.«
    Auf dem Rückwegs ins Zimmer seiner Mutter sah er zu seiner Überraschung Weiße Wolke, die an einem der öffentlichen Fernsprecher telefonierte. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und trug denselben weißen Wollpullover mit dem großen Kragen, den sie bei ihrem ersten Besuch in seiner Wohnung getragen hatte. Offenbar war sie g e kommen, um seine Mutter noch einmal zu besuchen.
    Er wußte, daß sie ein Mobiltelefon besaß, aber es war kaum verwunderlich, daß sie es wegen der zu Monatse n de drohenden Telefonrechnung selten benutzte. Auch er hatte aus diesem Grund den öffentlichen Fernsprecher in der Halle gewählt.
    Oder war es möglich, daß Gu ihr das Mobiltelefon nur während der Arbeit für ihn überlassen und nun wieder zurückverlangt hatte? Doch das ging ihn nichts an.
    Sie schien in ein längeres Gespräch vertieft, und er wollte gerade weitergehen, als er sie seinen Titel erwä h nen hörte. Sein Interesse war
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