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Schwarz auf Rot

Schwarz auf Rot

Titel: Schwarz auf Rot
Autoren: Qiu Xiaolong
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viel von der bedeutsamen Arbeit gehört, die Sie für unsere Stadt leisten.«
    Diese politischen Sonntagsreden waren natürlich nur Staffage. Aber Chen beunruhigten sie nicht. Es gibt Di n ge, die ein Mann tun kann, und Dinge, die ein Mann nicht tun kann. Dieser konfuzianische Spruch konnte auch bedeuten, daß man seine Entscheidungen in Übe r einstimmung mit den eigenen Prinzipien treffen mußte, ganz gleich, was von einem erwartet wurde.
    Eine neue Art von sozialem Netz, Spinnweben gleich, schien sich entwickelt zu haben und die Menschen eng miteinander zu verknüpfen, je nachdem, welche Intere s sensfäden sie verfolgten. Ob es ihm nun gefiel oder nicht, auch Oberinspektor Chen war in ein solches Beziehung s netz eingebunden.
    »Sie schmeicheln mir, Genosse Zhou«, entgegnete Chen. »Wir alle arbeiten für ein sozialistisches China. Und natürlich hilft man einander.«
    Das entsprach nicht dem konfuzianischen Gesel l schaftsideal und nicht jenem, das sein Vater, ein Neoko n fuzianer der vorigen Generation, sich erträumt hatte. A n dererseits, so raisonnierte Chen, war es dem Konfuzi a nismus aber auch nicht gänzlich fremd. Yiqi, die persö n liche Verpflichtung, die aus einer Situation erwuchs, war ein konfuzianisches Prinzip, das ebenfalls die moralische Bindung betonte. Allerdings schien eine solche Ve r pflichtung inzwischen vor allem hinsichtlich der eigenen Interessen jedes einzelnen zu bestehen.
    Chen rief sich zur Ordnung, er hatte jetzt keine Zeit für solche philosophischen Betrachtungen.
    Er betrat das Zimmer seiner Mutter. Sie schlief noch. Obwohl die Testergebnisse seine schlimmste Befürc h tung nicht bestätigt hatten, war sie in den vergangenen Jahren sichtbar schwächer geworden. Er setzte sich an ihr Bett. Seit er die Übersetzung angenommen hatte und der Mord an Yin Lige parallel dazu seine Aufmerksamkeit beansprucht hatte, war dies der erste Tag, an dem er sich Zeit für sie nehmen konnte, ohne über den Fall oder eine passende Formulierung nachgrübeln zu müssen. Sie b e wegte sich im Schlaf, wachte aber nicht auf. Ihm war das nur recht. War sie erst einmal wach, würde sie das G e spräch unweigerlich zu der einen Frage lenken: Willst du nicht jetzt, wo du es zu etwas gebracht hast im Leben, endlich auch mal eine Familie gründen?
    In der traditionellen chinesischen Kultur standen s o wohl gesellschaftliche Anerkennung als auch Familie ganz oben auf der Prioritätenliste eines Mannes, doch für seine Mutter war letzteres sehr viel dringlicher. Was i m mer er an Karriere und Parteistatus vorweisen konnte, hinsichtlich seines Privatlebens war er für sie ein unb e schriebenes Blatt.
    Wieder dachte er an die Gedichtzeile auf dem Rollbild mit der Wildgans, nun allerdings in einem anderen Z u sammenhang: Was kommen muß, wird kommen. Vie l leicht war die Zeit einfach noch nicht reif dafür.
    Er begann, für seine Mutter einen Apfel zu schälen, so wie es Weiße Wolke zu Hause für ihn getan hatte. A n schließend legte er die Apfelschnitze in einem Plasti k beutel auf den Nachttisch. Dann warf er einen Blick in die Schublade. Eigentlich konnte er ihre Sachen schon mal zusammenpacken. Womöglich würde er wegmüssen, bevor sie erwachte.
    Zu seiner Überraschung fand er in einem Buch mit buddhistischen Schriften, das seine Mutter mit ins Kra n kenhaus gebracht hatte, ein Photo von Weißer Wolke. In ihrer Schuluniform unter dem eindrucksvollen Portal der Fudan-Universität stehend, wirkte sie jung und unte r nehmungslustig. Er konnte verstehen, warum seine Mu t ter das Bild aufbewahrte. Überseechinese Lu hatte es einmal treffend mit einer Redewendung formuliert: »Deine Mutter betrachtet alles, was in ihren Korb kommt, als Gemüse.«
    Weiße Wolke war zweifellos ein nettes Mädchen. Und sie hatte ihm viel geholfen: bei der Übersetzung, mit dem Krankenhausaufenthalt seiner Mutter und bei den Ermit t lungen. Für das alles konnte er ihr nicht dankbar genug sein. Und es sollte nicht gegen sie sprechen, daß er sie zunächst als K-Mädel kennengelernt, daß er, seine Hand auf ihrem nackten Rücken, mit ihr getanzt hatte und daß sie schließlich, mit allen möglichen Implikationen dieses Begriffs, seine kleine Sekretärin geworden war. Über diese Art von Snobismus glaubte Chen sich erhaben.
    Das, was seine Mutter sich ganz offensichtlich über sie beide dachte, war ihm nie in den Sinn gekommen. Und das lag nicht nur am Altersunterschied, an ihrem unte r schiedlichen Hintergrund und an der Tatsache,
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