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Schrei der Nachtigall

Schrei der Nachtigall

Titel: Schrei der Nachtigall
Autoren: Andreas Franz
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ihren Augen erschien.
    Sie schwiegen eine Weile, Allegra schaute aus dem Seitenfenster in den sternenklaren, fast mondlosen Himmel. Der milde, sonnige Frühlingstag war einer kühlen Nachtgewichen. Sie fühlte sich wohl, wenn Johannes sie im Arm hielt, sie sich an ihn lehnen konnte. Mit ihm wurde es nie langweilig, ganz gleich, ob sie wie jetzt schwiegen oder sich unterhielten. Und obwohl sie sich nun schon seit ihrer frühesten Kindheit kannten und liebten, war jeder Tag, den sie miteinander verbrachten, ein besonderer Tag.
    Schließlich sagte sie: »Lass uns fahren, ich will keinen Ärger kriegen. Du weißt, wie mein Vater ist, wenn er getrunken hat.«
    »Ich möchte zu gerne wissen, was in seinem kranken Hirn vorgeht. Der hasst mich, aber ich frag mich immer, was ich mit dem ganzen Streit zwischen unseren beiden Familien zu tun habe. Ich hab ihm doch nichts getan.«
    »Er ist nun mal so. Er ist mit sich und der Welt nicht im Reinen. Ich würde auch am liebsten meine Sachen packen und abhauen, aber das könnte ich meiner Mutter nicht antun. Thomas will ja schon weg, und mein Vater macht deswegen einen Aufstand, das ist kaum auszuhalten.«
    »Ich kann Thomas verstehen, und der soll bloß keinen Rückzieher mehr machen, sonst kriegt er’s mit mir zu tun. So, und jetzt fahr ich dich heim, auch wenn ich viel lieber die ganze Nacht mit dir verbringen würde.«
    »Ich auch. Die Zeit wird kommen«, sagte sie mit einem melancholischen Unterton, den Johannes jedoch nicht wahrnahm oder nicht wahrnehmen wollte.
    Es war kurz nach Mitternacht. Johannes ließ den Motor an und fuhr langsam vom Parkplatz herunter. Gut vier Kilometer lagen vor ihnen, vier Kilometer, auf denen ihnen, wie meist in dieser Gegend und um diese Uhrzeit, keinAuto begegnen würde. Eine ausgebaute Landstraße mit wenigen Kurven, zu beiden Seiten Wiesen und Felder. Johannes hatte die aktuelle CD von Dido eingelegt, die Lautstärke war gemäßigt. Allegra hatte ihren Blick wieder aus dem Seitenfenster gerichtet, und sie war in Gedanken versunken. Johannes fuhr etwa neunzig. Er hatte das Fernlicht eingeschaltet, um so besser auf eine mögliche Begegnung mit einem Reh, einem Hirsch oder einem Hasen vorbereitet zu sein. Es hatte gerade hier schon einige Wildunfälle gegeben, und er wollte nicht unbedingt zu jenen gehören, deren Auto hinterher nur noch reif für die Schrottpresse war. Glücklicherweise war bei diesen Unfällen noch nie ein Toter zu beklagen gewesen.
    Mit einem Mal geschah etwas Unerwartetes, und es geschah so schnell, dass Johannes keine Zeit mehr zum Reagieren hatte. Er verlor urplötzlich die Kontrolle über sein Fahrzeug. Er versuchte gegenzusteuern, ohne zu bremsen, wie er es in der Fahrschule gelernt hatte. Für einen Moment schien ihm dies auch zu gelingen, doch Johannes war nicht mehr in der Lage, das Lenkrad festzuhalten. Tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf.
    Alles spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab. Sie hatten nicht einmal mehr Zeit zu schreien, als der kleine Ford KA sich auf dem Acker mehrfach überschlug und schließlich auf den Rädern zum Stehen kam.
    Es verging fast eine Stunde, bis ein anderer Autofahrer das Wrack entdeckte. Er hielt an, sprang aus seinem Wagen und rannte zu der Unfallstelle. Im Licht der Taschenlampe sah er die beiden jungen Menschen, die zersplitterten Scheiben und vor allem das viele Blut. Von seinemHandy aus rief er die Polizei an, die zusammen mit einem Notarztwagen nur zehn Minuten später am Unfallort eintraf.
    »Hier ist nichts mehr zu machen«, sagte einer der beiden Notärzte kopfschüttelnd, nachdem er Johannes untersucht hatte, und blickte einen neben ihm stehenden Streifenbeamten ratlos an. »So jung. Na ja, wahrscheinlich von der Disco gekommen, zu viel getrunken oder Pillen geschluckt, was weiß ich. Kennt ihn jemand?«
    Kopfschütteln.
    »Das Mädchen lebt noch«, sagte der andere Notarzt aufgeregt. »Sofort ab ins Krankenhaus. Ich glaub aber nicht, dass sie es schafft. Da müsste sie schon tausend Schutzengel haben.«
    Allegra wurde mit Blaulicht nach Hanau gebracht. Sie hatte schwere äußere und innere Verletzungen, von denen die gravierendste ein Schädelhirntrauma war. Ihre Mutter war einem Zusammenbruch nahe, als die Polizei ihr von dem Unfall berichtete. Sie wurde von ihrem Sohn Thomas in die Klinik gefahren, weil ihr Mann wie so oft wieder einmal in irgendeiner Bar oder Kneipe in Hanau, Offenbach oder Frankfurt versackt war. Nach nur einer Stunde wurden sie von dem
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