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Schrei der Nachtigall

Schrei der Nachtigall

Titel: Schrei der Nachtigall
Autoren: Andreas Franz
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ein Zuckerschlecken gewesen waren. Es waren allein ihr Durchsetzungsvermögenund ihr unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen, die ihr halfen, selbst die schwierigsten Situationen zu meistern. Niemand, ihr Vater ausgenommen, vermochte sich ihrem Charme zu entziehen. Sie vermittelte stets den Eindruck von Fröhlichkeit und Beschwingtheit. Und auch dies gehörte zu ihrem Wesen, es war ihr in die Wiege gelegt worden, das Ernsthafte, bisweilen Melancholische, das sich vor allem in ihren Augen widerspiegelte. Wenn sie sprach, war ihre Stimme sanft, manche behaupteten, samten, und wenn sie lachte, klang es warm und weich.
    Allegra war eine besondere junge Frau. Bereits als sie ein Kind war, hatten sich die Jungs um sie geschart wie die Bienen um den Nektar, doch schon seit dem Kindergarten gab es nur einen für sie, Johannes, mit dem sie alt werden wollte, der sie verstand und in ihrem Bemühen unterstützte, vielleicht eine Karriere als Opernsängerin zu machen, was noch ein Traum war, der sich aber möglicherweise erfüllen würde.
    Einmal, es war erst vor wenigen Tagen, hatte er in einem seiner seltenen Anflüge von Wehmut gefragt, ob sie ihn wohl fallen lassen würde, wenn sie Erfolg hätte. Und sie hatte ihm mit einem Lächeln geantwortet, dass ihre Liebe für ihn stärker sei als ihr Streben nach Ruhm, und außerdem wisse doch keiner von ihnen, ob ihr großer Berufswunsch jemals in Erfüllung gehen würde. Daraufhin erzählte er ihr von einem Traum, in dem sie beide Hand in Hand über eine Wiese spazierten, doch sie sprachen nicht miteinander, sie sahen sich nicht einmal an, während sie sich auf den Horizont zubewegten, der schier unendlichweit schien. Mit einem Mal war Wasser zwischen ihnen, anfangs nur ein schmales Rinnsal, das jedoch schnell immer breiter wurde, bis sie sich nicht mehr an den Händen halten konnten. Die ganze Landschaft veränderte sich, aus dem Rinnsal war binnen Sekunden ein reißender Fluss geworden, der Himmel hatte sich verdunkelt, schwarze Wolken bedeckten ihn. Schließlich sahen sie sich über den Fluss hinweg an, und ihre Blicke waren traurig, und er erzählte, sie habe sich immer weiter von ihm entfernt, weil das Wasser so breit und auch so tief war, dass sie unmöglich zusammenbleiben konnten. Ihm kam es vor wie eine Trennung auf ewig, und er war von diesem Traum verstört und schweißgebadet aufgewacht. »Das hat nichts zu bedeuten«, hatte Allegra daraufhin gesagt, »das war nur ein dummer Alptraum. Es gibt nichts, was uns trennen kann.« An jenem Abend war alles anders als sonst, stiller, bedrückt, und sie hielten sich lange umarmt. Und Allegra spürte intuitiv, dass dieser Traum kein gewöhnlicher Alptraum gewesen war, doch sie hütete sich davor, es auszusprechen, denn sie selbst war zu verwirrt und wollte auch nicht mehr darüber nachdenken, obwohl das Erzählte sie noch an den folgenden Tagen beschäftigte.
    Sie stiegen in das Auto ein und fuhren zu einem nahe gelegenen Parkplatz, wo sie oft standen, um Abschied voneinander zu nehmen, obgleich sie sich schon am nächsten Tag wiedersehen würden. Sie unterhielten sich über den zurückliegenden Abend, Allegra legte ihren Kopf an seine Schulter, er streichelte über ihr Haar.
    »Ich würde am liebsten mit dir fortgehen und dich heiraten«, sagte Johannes leise. »Weit, weit weg.«
    »Ich auch«, erwiderte sie nur.
    »Warum ist das Leben bloß so schwer? Warum können wir nicht einfach zusammenleben?«
    »Das Leben ist gar nicht so schwer, es kommt nur drauf an, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet.«
    »Ja, ja, du Philosophin«, sagte er mit einem Anflug von Lachen, auch wenn ihm nicht danach zumute war. Überhaupt lachte er seit dem Tod seiner Mutter vor drei Jahren nur noch selten, zu sehr hatte ihn dieses tragische Ereignis mitgenommen und beschäftigte ihn auch heute noch. »Mich würde zu sehr interessieren, wie unsere Kinder wohl aussehen werden. Bestimmt wie du, dann wären es die schönsten Kinder der Welt.«
    »Jetzt mach aber mal halblang. Nicht das Äußere ist entscheidend, das habe ich dir oft genug gesagt.«
    »Du bist schön.«
    »Auch eine Frage des Blickwinkels. Außerdem siehst du auch nicht gerade schlecht aus, aber deswegen habe ich dich nicht ausgesucht. Wir sind eben füreinander bestimmt.«
    »Meinst du wirklich?«
    »Sicher.«
    »Wie sicher?«
    »So sicher wie das Amen in der Kirche.« Sie betonte es mit fester Stimme, auch wenn der Traum, den Johannes gehabt hatte, mit einem Mal wieder vor
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