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Schottische Disteln

Schottische Disteln

Titel: Schottische Disteln
Autoren: Christa Canetta
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I
    Ryan McGregor kletterte auf den Anleger, vertäute sein Boot und packte das Angelgerät und den Eimer mit den Fischen auf die Planken. Mit wildem Gebell kamen seine schwarzweißen Kurzhaarcollies den Abhang heruntergestürmt, um sich mit wedelnden Ruten Streicheleinheiten zu holen. Ryan tätschelte die Köpfe, kraulte hinter den Ohren und versetzte jedem einen Klaps auf das kräftige Hinterteil.
    »Ab mit euch, ihr sollt die Schafe hüten, nicht mich.«
    Kläffend rannten die beiden zurück über den Hügelkamm. Von der Herde war nichts zu sehen, nur ein entferntes Blöken verriet die etwa zweihundert Tiere auf der anderen Seite der Erhebung. Ryan schob den breitrandigen Barbourhut in den Nacken, nahm seine Geräte und die Fische und lief hinter den Hunden her. Im Westen ging die Sonne über dem Moray Firth und den Hügeln der Black Isle unter und warf den langen Schatten des Mannes über die erblühende Heide.
    August in den nördlichen Highlands von Schottland, das bedeutete violette Farbenpracht so weit das Auge reichte. Ryan liebte dieses Land. Er konnte sich nicht vorstellen, jemals weit entfernt von hier zu leben. Der würzige Wind vom Nordmeer, die duftenden Blüten zu seinen Füßen, der kräftige Kieferngeruch der Bergwälder im Süden und das wunderbare Gefühl absoluter Ruhe, wenn er mit dem Boot draußen war, das war sein Leben. Jedenfalls für vier Wochen im August. Ryan McGregor war ein hoch gewachsener Mann. Seine schmalen Schultern und der durchtrainierte Körper verliehen ihm das Aussehen eines aktiven Sportlers. Er hatte ein gut geschnittenes Gesicht mit einem offenen, aber sehr wachsamen Blick. Seine Augen waren von einem intensiven Blau, und sein volles blondes Haar fiel ihm jungenhaft und struppig ins Gesicht, als er den Hut abnahm und mit beiden Händen hindurchfuhr. Dennoch sah man ihm seine fast fünfzig Jahre an. Schuld waren die Falten, die sein Gesicht durchzogen, Folgen harter Arbeit und des Lebens in Sonne und Wind.
    Ryan sah zurück zur Förde. Er liebte das Angeln. Schon als kleiner Junge kannte er nichts Schöneres, als mit dem alten Scott hinauszufahren und Fische zu fangen. Während er weiterging, dachte er an die vielen Stunden zurück, die er mit dem Fischer auf dem Firth verbracht hatte und in denen er gelernt hatte, Leinen zu werfen, die Beute einzuholen und den Kescher zu gebrauchen. Scott hatte ihm gezeigt, wo die Meerforellen in den verschiedenen Jahreszeiten standen, wo die wilden Lachse wanderten, wann und wo sie laichten und welchen Köder man benutzen musste. Später, als Heranwachsender und als es den alten Mann nicht mehr gab, fuhr er allein hinaus, und das war fast noch schöner, denn er liebte die Einsamkeit. Er fing niemals mehr Fische, als er brauchte, wobei er behutsam die kleinen heranwachsenden Tiere vom Haken löste und zurück ins Wasser warf. Auch heute brachte er nur vier Fische mit. Zwei Forellen waren sein Abendessen, die beiden Lachse würde er räuchern, denn sein Vorrat an Räucherfisch war zu Ende.
    Oben am Hügelrand tauchte der Giebel seines Hauses auf. Er hatte es hoch anlegen müssen, denn das Meer war unberechenbar, und wenn der Wind direkt von Nordost in die Förde drückte, konnte das Wasser erschreckend hoch steigen. Dann musste er sogar sein Boot mit dem Jeep den Hügel hinaufziehen und oft genug einen neuen Steg bauen, wenn der Sturm abgeflaut war.
    Je höher er kam, umso mehr sah er von seinem Haus. Es war aus den grauen Granitsteinen dieser Gegend gebaut und fast unsichtbar in einer Landschaft, die von diesen Felsen geprägt war. Er dachte daran, wie er es entworfen hatte und wie enttäuscht der Baumeister war, weil es so klein und schlicht werden sollte.
    Ryan legte seine Sachen ab, zog die Gummistiefel aus und ging hinein. Zwei Drittel des Erdgeschosses nahm die große Wohnhalle ein, links davon war die Küche. Eine schmale Treppe führte nach oben. Ein geräumiges Schlafzimmer und das Bad im Dachgeschoss, mehr brauchte Ryan nicht. Zufrieden blickte er sich um. Ein großer Kamin versorgte alle vier Räume mit Wärme, und ein mühsam über Land gezogenes Kabel brachte den Strom. Er hatte das Haus nach seinen Plänen bauen lassen, als nach dem Tod des Fischers die alte Holzhütte einzustürzen drohte. Nun besaß er genau das Haus, von dem er immer geträumt hatte. Er nahm den Hut ab, hängte die Anglerweste mit den zahllosen Taschen an den Haken und ging in Strümpfen zum Kamin, um Feuer zu machen. Die Wohnhalle mit dem gefliesten Boden
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