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Schottische Disteln

Schottische Disteln

Titel: Schottische Disteln
Autoren: Christa Canetta
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gewinnen, weil sie das schnellste und schönste Pferd besaß. Herrliche, aufregende Träume waren das gewesen, wenn sie sich abends mit ihnen unter der Bettdecke verkroch, weil die Mutter das Lesen verboten und die Lampe gelöscht hatte.
    Behaglich räkelte sich Andrea in ihrem Liegestuhl und dachte zurück an die Abenteuer, die sie in ihren Träumen erlebt hatte. Mit zwanzig träumte sie von anderen Pferdestärken. In einem Wohnmobil ihrer Fantasie durchstreifte sie die Welt vom Nordkap bis Sizilien, von Gibraltar bis Wladiwostok.
    Heftige Wellen klatschten plötzlich gegen die Planken. Andrea richtete sich auf und nahm ihre Tasche auf den Schoß, damit sie nicht nass wurde. Ein Ausflugsschiff glitt vorbei und versetzte das Wasser in Unruhe. Sie sah auf die Uhr. Fünfzehn Minuten noch, dann musste sie zurück ins Atelier. Im Westen war die Wolkenwand ein ganzes Stück näher gekommen. In einer Stunde würde es ein heftiges Gewitter geben.
    Mit einem Seufzer des Behagens legte sich Andrea wieder zurück und träumte weiter: von der Karriereleiter, die sie mit fünfundzwanzig erklimmen wollte, und von dem Mann, den sie sich ein paar Jahre später erträumte. Einzigartig und dunkelhaarig musste er sein, gebildet, treu und charmant. Niveau, Geld und Humor würde er haben, und natürlich sollte er sie auf Händen tragen. Ach, diese Träume! Andrea setzte sich und rieb sich die Augen, in die etwas Sonnenöl gezogen war. Es wurde Zeit zurückzugehen.
    Auch andere Sonnenanbeter standen auf. Man lachte und winkte sich zu, man kannte sich allmählich. Andrea brachte ihren Liegestuhl zurück, nahm die Tasche und stieg die Treppe zur Straße hinauf. Ein letzter Blick über das Wasser und hinüber zur Innenstadt, über der sich die Wolkenwand jetzt ausbreitete, dann ging sie in Richtung Mittelweg davon. Andrea dachte daran, was aus ihren Träumen geworden war. Ein kleines bisschen wenigstens hatten sie sich erfüllt. Zwölf Jahre lang besaß sie einen Hund, keinen großen, im Gegenteil, einen kleinen, eigenwilligen Dackel mit Namen Flöckchen. Furcht einflößend war der nicht, aber sehr liebenswert. Auch der Traum vom Pferd erfüllte sich: Sie durfte reiten lernen, weil ihr Vater einen Reitlehrer kannte und der Unterricht nichts kostete. Andrea lachte, als sie daran dachte. Das beste Pferd bekam sie nie, aber der dicke, stichelhaarige Sico, den jeder für ein Brauereipferd hielt, war treu. Er trug sie sicher, wenn auch langsam durchs Gelände und zurück in den Stall. Der Hafer war sein Wegweiser.
    Ja, und die Weltreisen im Wohnmobil wurden auch Wirklichkeit, zum Teil jedenfalls. Passend zu ihrem alten gebraucht gekauften Morris Mini besorgte sich Andrea ein Minizelt aus zweiter Hand und fuhr mal in den Norden bis nach Dänemark und mal nach Süden bis zum Harz. Ja, und dann war da noch das Jahr als Aupairmädchen in den USA. Sie lernte Englisch und verliebte sich in den rot gelockten Sohn des Hufschmieds, der auf der Farm die Pferde beschlug. Ach Gott, war das lange her! Mit dem Traummann hatte der wirklich keine Ähnlichkeit.
    Na ja, und auf der Karriereleiter kletterte sie immer noch. Sie sah auf die Uhr. Verflixt, sie war spät dran. Rasch legte Andrea eine Joggingstrecke ein, sonst konnte sie leicht von der Karriereleiter fallen. Atemlos erreichte sie kurz darauf das Atelier der Reinickes.
    »Hallo Jens, was gibt es Neues?«
    »Außer dem Sonnenbrand auf deiner Nase nur ein paar Aufträge für das Wochenende. Inken hat sie notiert.«
    Andrea ging nach hinten zur Chefin.
    »Du hast gut zu tun in den nächsten Tagen«, begrüßte diese ihre Angestellte und gab ihr die Terminliste.
    Andrea las laut vor. »Eine Hochzeitsparty heute Abend, die Military morgen – meine Güte, da muss ich ja um vier Uhr aufstehen«, stöhnte sie. »Dann auch noch eine Taufe am Sonntag.« Sie faltete die Liste zusammen. »Da fange ich am besten gleich mit den Vorbereitungen an.«
    Inken nickte und wandte sich wieder den Papieren auf ihrem Schreibtisch zu.
    Andrea freute sich. Wochenendtermine brachten zusätzlich Geld, und das konnte sie dringend gebrauchen. Während sie ihr winziges Büro aufsuchte, dachte sie an ihre beruflichen Anfänge. Bis zum Abitur wusste sie eigentlich nicht, wozu sie Lust hatte. Sie träumte von einer Tierarztpraxis, aber dafür fehlte das Geld. Auch Innenarchitektur hätte ihr Spaß gemacht, aber die Konkurrenz war in Hamburg zu groß. Schließlich entschloss sie sich für Fotografie. Die Ausbildung sollte nicht ewig
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