Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schottische Disteln

Schottische Disteln

Titel: Schottische Disteln
Autoren: Christa Canetta
Vom Netzwerk:
so lief, wie sie sollte. Hoffentlich konnten sie sie noch eine Weile behalten. Ihnen war zwar klar, dass sich Andrea mehr wünschte als ein Angestelltenverhältnis in einem kleinen Fotoatelier. Sie wussten aber auch, dass Andrea selbst ihr Ziel noch nicht kannte, und das war gut so.
    Andrea war wütend. Wie jeden Tag stand sie vor der Haustür und suchte ihr Schlüsselbund, das sich, wie üblich, in der letzten Ecke ihrer Tasche verkrochen hatte. Heute war das besonders schlimm, denn der Wind peitschte den Regen in schrägen Schnüren fast waagerecht durch die Straße, und das winzige Glasdach über der Haustür, lächerliche Spielerei eines Architekten, bot überhaupt keinen Schutz. Außerdem musste sie die Post aus dem Briefkasten nehmen, bevor das Papier völlig durchnässt war. In einem Anfall von Experimentierfreudigkeit hatte die Hausverwaltung die achtzehnteilige Kastenanlage außen in die Hauswand integriert, ein Schwachsinn, der nicht nur die Kästen, sondern auch deren Inhalt jedem Wetter aussetzte. Endlich hatte sie das Schlüsselbund, stopfte die Post in ihre Tasche und öffnete die Haustür. Der Schirm war verbogen und ließ sich nicht mehr schließen, vom Kostüm tropfte das Wasser, und die Frisur war auch hinüber. Und das an einem Freitagnachmittag! Während sie auf den Lift wartete, überlegte Andrea, wie sie sich wieder in Form bringen konnte, bevor sie die Wochenendtermine in Angriff nahm. Endlich kam der Lift. Als sie in der dritten Etage ausstieg, hinterließ sie eine beachtliche Pfütze auf dem genoppten Boden. Vor der Wohnungstür ließ sie Schuhe und Schirm stehen und ging auf Strümpfen hinein. Der empfindliche Teppichboden nahm ihr jede Unachtsamkeit übel.
    Sie zog sich aus, und während sie das Haar frottierte, sah sie in den Spiegel. Mit dreißig sollte man eine ruhigere Gangart einschalten, überlegte sie. Bald schon würde der Stress seine Spuren hinterlassen. Sie beugte sich nach vorn und suchte nach ersten Fältchen und glanzloser Haut, aber noch war es nicht so weit. Ihr Teint war in Ordnung, ihre großen, grauen Augen waren klar und lebendig, die Lippen gut geformt und die Nase schmal und richtig proportioniert. Es war ein junges Gesicht, das sie ansah, fein geschnitten und unverbraucht. Sie lächelte, und das Gesicht im Spiegel lächelte zurück. Es war ein offenes Lächeln und sie wusste um seine Wirkung. Andrea, hoch gewachsen und schlank, war nur mit ihrem Haar nicht zufrieden. Es war mittelbraun, zu fein und besaß nicht eine einzige Locke. Es war schwer zu frisieren, und so ließ sie es lang wachsen, um es bei offiziellen Anlässen hochstecken zu können. In der Freizeit trug sie es als Zopf oder als Pferdeschwanz, was ihr in ihrem Alter zwar albern vorkam, sie aber jung und unbekümmert aussehen ließ.
    Andrea besah sich ihre Garderobe. Groß war die Auswahl nicht, aber sie musste sich heute Abend dem Fest im Atlantik-Hotel entsprechend anziehen. Nacheinander zog sie die Sachen heraus und schüttelte den Kopf: Mit den Träumen vom Reichtum klappte es auch noch nicht! Schließlich nahm sie ein schlichtes schwarzes Etuikleid vom Bügel und legte den in dezenten Farben gehaltenen Blazer von Jil Sander dazu. Es war das einzig edle Stück in ihrer Garderobe, und dass sie die Jacke in einem Secondhandladen gekauft hatte, musste ja niemand wissen. Sie dachte mit Bedauern an die verlockenden Auslagen der City-Boutiquen, die nur auf sie zu warten schienen. Aber so weit war sie noch nicht. Alles Geld, das sie verdiente und das nicht für Miete, Versicherungen und einen sehr knapp bemessenen Lebensunterhalt draufging, sparte sie. Nach wie vor träumte sie von der Karriereleiter, von Erfolgen und Anerkennung, und sie wusste genau, dass man dafür Geld brauchte. Sie wollte weiterkommen, nicht immer nur die kleine Fotografin sein, die man kreuz und quer herumschickte. Sie wollte ganz einfach mehr, und sie wusste, dass es nicht unbedingt eine Fotokarriere sein musste. Nur was es sein könnte, das war ihr noch nicht klar. Manchmal fühlte sie sich wie in einem Ballon gefangen. Ein kleiner Stich, der Ballon würde platzen, und sie wüsste, was sie wollte.
    Während Andrea versuchte, ihr feuchtes Haar hochzustecken, klingelte das Telefon. Ausgerechnet jetzt, dachte sie, eine Hand auf dem Kopf, die andere voller Haarnadeln
    Verärgert griff sie nach dem Hörer.
    »Steinberg.«
    »Hallo Andrea, wie geht es dir?«
    »Tag Peter, ich bin in Eile.«
    »Kann ich dir helfen?«
    »Danke nein, ich muss
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher