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Schoenhauser Allee

Titel: Schoenhauser Allee
Autoren: Wladimir Kaminer
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Übersetzer sofort.
    »Ich möchte Ihnen einen Ausschnitt aus meiner neuen Erzählung vorlesen«, fuhr der Schriftsteller fort, »sie geht so: ‘In der Kaserne roch es stark nach verfaulten Fußlappen und verbranntem Grießbrei. Aus der Ferne hörte man die Schreie der Soldaten und das Knattern der Maschinengewehre.’ Und so weiter und so fort.« Er machte das Buch zu und lehnte sich im Sessel zurück. Eine Pause bildete sich im Raum.
    »War's das?«, fragte jemand aus dem Publikum.
    »Nein, noch nicht ganz«, erwiderte der Übersetzer. »Jetzt werde ich nämlich einen anderen Text von dem Schriftsteller Bikau auf Deutsch vorlesen und der geht so...«
    »Aber erlauben Sie«, regten sich drei Zuschauer auf, »wieso denn ein anderer Text und noch dazu auf Deutsch? Es gibt doch gar keine Deutschen hier im Saal.«
    »Meinetwegen brauchen Sie das nicht zu tun!«, rief Helmut von seinem Platz aus. Keiner der Russen verstand ihn, dafür aber der Übersetzer.
    »Aha!«, freute er sich, »seht ihr, es gibt doch Deutsche im Saal, und nun werde ich einen anderen Text vorlesen, weil der erste noch gar nicht ins Deutsche übersetzt wurde.«
    »Halten Sie die Klappe, wir wollen mit dem Schriftsteller reden, ihm Fragen stellen und keine Texte auf Deutsch hören«, rebellierte jemand im Publikum.
    Der Übersetzer war beleidigt. »Na, wenn Sie es nicht anders wollen«, sagte er, »fickt euch alle ins Knie, ich werde trotzdem alles übersetzen!«
    »Ich mag nicht reden«, sagte plötzlich der alte Schriftsteller.
    »Halts Maul«, rebellierte das Publikum weiter, »wir haben zehn Mark bezahlt, jetzt musst du uns auch was erzählen!«
    »So eine Unverschämtheit habe ich hier noch nie erlebt«, sagte eine alte Frau vom Klub
Trialog
, die für die Organisation zuständig war.
    Eine andere alte Frau stand auf und fragte: »Herr Bikau, in Ihrem Buch
Die Wiederauferstehung
beschreiben Sie den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse...«
    »Das Buch hat er gar nicht geschrieben, das ist von einem anderen Schriftsteller, von Ananjew«, brüllte das Publikum, »setz dich wieder hin, alte Kuh!« Zwei Männer zerrten die Frau am Rock.
    »Ihr könnt mich alle mal, ist doch egal, wer das geschrieben hat. Ich möchte Herrn Bikau trotzdem etwas fragen, was mich sehr beschäftigt: Was meinen Sie, was war zuerst da: das Gute oder das Böse?«
    »Herr Bikau, in Ihrem Buch
Die Wiederauferstehung
, das Sie gar nicht geschrieben haben, behandeln Sie die Frage, was ist böse, was ist gut«, übersetzte der Übersetzer.
    »Was machen Sie da schon wieder, Sie Mistkerl?«, regten sich die Russen wieder auf.
    »Aber erlauben Sie! Ich muss die Frage doch übersetzen!«
    »Es gibt hier keine Deutschen im Saal!«
    »Ja«, sagte Bikau. »Sie haben vollkommen Recht. Auch in meinen Büchern kommt manchmal das Böse vor, und auch das Gute kommt vor in meinen Büchern.« Dann lehnte er sich zurück.
    »Aber Sie haben meine Frage gar nicht beantwortet!«, rief die Frau.
    »Aber Sie haben ihre Frage nicht...«, wiederholte der Übersetzer.
    »Habe ich doch«, widersprach Bikau.
    »Hat er«, sagte der Übersetzer.
    »Hat er nicht«, sagte die Frau.
    »Ich bin der Meinung, dass ich die Frage beantwortet habe«, insistierte der Schriftsteller.
    »Lasst uns höflich zueinander sein«, riet ein Mann aus dem Publikum.
    »Ich übersetze das gleich«, sagte der Übersetzer und ging aufs Klo. Er nahm das Mikrofon mit, um sicher zu sein, dass in seiner Abwesenheit nicht geredet wurde.
    »Ja«, sagte Bikau, »gibt es noch weitere Fragen?«
    »Was halten Sie von der Auflösung der Sowjetunion? Sehen Sie für die Vereinigung zwischen Russland und Weißrussland noch eine Chance?«, fragte jemand im Saal.
    Der Schriftsteller überlegte kurz. »Man kann alles Mögliche zerteilen«, sagte er. »Und alles Mögliche kann man wieder zusammensetzen. So ist das Leben.« Fügte er nach einer langen Pause dazu.
    »Sie haben meine Frage nicht beantwortet!«, rief der Mann mit beleidigter Stimme.
    »Habe ich doch«, sagte Bikau.
    »Ihr Schweine«, rief der Übersetzer, der gerade aus dem Klo zurückkam. »Ihr habt ohne mich geredet! Wie soll ich das jetzt übersetzen!«
    »Seien Sie still«, rief die Frau von Klub
Trialog
, unser Gast ist eingeschlafen!«
    Alle schauten den Schriftsteller an. Er saß im Sessel und schnarchte friedlich. Einer nach dem anderen gingen die Leute leise auf Zehenspitzen aus dem Saal, um den Titanen der Nachkriegsliteratur nicht zu wecken. Er mag ein schwieriger Mensch
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