Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schoenhauser Allee

Titel: Schoenhauser Allee
Autoren: Wladimir Kaminer
Vom Netzwerk:
Das Trio machte ebenfalls einen übermüdeten Eindruck. Es war halb acht, wer weiß wie lange sie schon dort standen? Die Schlange hatte ein Auge geschlossen. Mit dem anderen schielte sie in Richtung »Kaiser's« und beobachtete das dort liegende und herumrennende Essen. Sie hatte auch keine Lust mehr, als Schlange in der Luft zu hängen. Noch ein wenig länger und sie würde kotzen, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Vielleicht war das Reptil nicht einmal schwindelfrei.
    Ich empfand eine gewisse Solidarität mit ihr. Wir Entertainer von heute sind eindeutig überfordert. Meine liebe Schlange, dachte ich, in der Zeit der totalen Unterhaltung haben wir es nicht leicht. Obwohl immer mehr Leute aus anderen Berufsgruppen in unsere Branche wechseln und Entertainer werden – Politiker, Ärzte, Wissenschaftler und so weiter –, kann das Angebot die Nachfrage noch immer nicht decken. Die bittere Erfahrung, dass man das Leben nicht immer noch besser machen kann, als es ist, hat die Menschheit in eine ziemliche Sackgasse gebracht. Allen Berufsgruppen, die an der Weltverbesserung arbeiten, droht die Arbeitslosigkeit. Nur die totale Unterhaltung zeigt den Ausweg: Man kann es nicht schöner machen, aber dafür spannender, bunter und lauter. Unterhaltsamer eben. Das ganze Leben in eine Talkshow verwandeln, nur auf diese Weise kann man die Reste von Menschlichkeit und den guten Willen zur allgemeinen Verbesserung der Lage aufrechterhalten. In Moskau, wo ich herkomme, wird die totale Unterhaltung derzeit noch heftiger betrieben als hier. Das Dollardenkmal am Puschkinplatz ist so ein Zeichen der neuen Zeit. Es steht vor dem ehemals größten Filmtheater »Russland«, dem nun größten Spielkasino der Stadt: eine drei Meter hohe Plastik aus fünf aufeinander gestapelten Dollarbündeln, die merkwürdigerweise von innen beleuchtet sind.
    Auf dreizehn Fernsehkanälen laufen ununterbrochen Talkshows und Realitysoaps. Es wird überall gedreht, beispielsweise in einem Krankenhaus, in dem eine Frau gleich gebären wird. Die Zuschauer können wetten, was es wird: ein Mädchen oder ein Junge? In Restaurants, in der Psychiatrie, im Knast. Meine Lieblingssendung heißt: »Aus ganzem Herzen«, eine russische Variante von »Vera am Mittag«. »Vermissen Sie jemanden, Frau Petrova?«, fragt die Moderatorin eine alte, etwas verklemmte Frau.
    »Eigentlich nicht«, antwortet sie.
    »Aber Sie haben doch 1968 abgetrieben. Stimmt das? Doch, doch, Frau Petrova, verziehen Sie Ihr Gesicht nicht so, Ihr Sohn lebt und befindet sich heute in unserem Studio. Begrüßen Sie mit uns Alexej!«
    Eine andere Sendung; »Wenn die Massenmörder singen«, ist auch nicht übel. Aus einer Zelle für besonders schwere Verbrecher wird täglich berichtet, wie es den Inhaftierten geht. Am Schluss darf ein Serienmörder sein Lieblingslied vor der Kamera singen. Ich weiß nun, dass manche Serienkiller besser singen können als viele Liedermacher.
    Doch wir alle müssen noch viel lernen, um der Zeit der totalen Unterhaltung gewachsen zu sein. »Lernen, lernen und lernen«, wie Lenin einmal sagte. Und das betrifft alle Entertainer ohne Ausnahme – die Schlange, den Clown, den Bundespräsidenten, den Serienkiller, dich und mich. Wir müssen uns noch viel mehr einfallen lassen.

Alles wird anders
    Meine Tante rief mich um Mitternacht an. Sie machte sich Sorgen wegen Maus. Sie ging gestern raus und spazieren und ist seitdem nicht wieder nach Hause gekommen. Maus ist die Katze meiner Tante. Beide haben die Wanderbewegung der Neunzigerjahre zusammen überstanden: von Odessa nach Moskau, von Moskau nach Düsseldorf und von Düsseldorf nach Berlin. Sie haben viel zu erzählen. Ich beruhigte meine Tante am Telefon: Es sei ganz normal für Katzen in ihrem Alter, mal groß auszugehen.
    Es war wieder Vollmond, und meine Frau und ich, wir konnten nicht einschlafen und saßen in der Küche mit einem Haufen russischer Zeitungen vor uns. Der Mond schien durch das Küchenfenster und spendete uns zusätzliche Energie, die wir zu der späten Stunde auch brauchten. Seit ich für die russischsprachige Zeitung in Berlin Kolumnen schreibe, lese ich sie auch fast regelmäßig. Besonders gern lese ich die Annoncen. Dadurch lässt sich schnell nachvollziehen, wie meine Landsleute hier über die Runden kommen, und wie sehr sich ihr Leben verändert Die Russen sind oft schlau. So denken sie sich oft neue Berufe aus und bringen ihre einmaligen Leistungen auf den Markt: »Lesen für Sie zwischen den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher