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Schoenhauser Allee

Titel: Schoenhauser Allee
Autoren: Wladimir Kaminer
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nach Benzin und frischen Zeitungen. Hans hat viel für fremde Kinder übrig, seine Liebe zu ihnen ist die eines Weihnachtsmanns. Immer findet er irgendwelche Süßigkeiten in seinen Taschen. Bei den vietnamesischen Kindern ist der »gute Onkel von oben« bereits eine Legende. Zu seinen eigenen Kindern, die aus seinen tragischen Liebesgeschichten entstanden sind, hat er aus unerfindlichen Gründen keinen Kontakt.
    Bei den Vietnamesen hat man das Gefühl, dass dort ununterbrochen gewaschen und gekocht wird. Der süßfleischige Geruch, der sich bei uns im Treppenhaus verbreitet, lässt mich an so exotische Sachen denken, wie gebratener Hund mit Ananas oder geräucherte, in Honig eingelegte Tauben. Ich habe bereits mehrere Telekomrechnungen für diese Familie übersetzt, und weiß dank meiner Besuche in ihrer Wohnung, dass ein Großfamilienleben von weitem viel schlimmer aussieht als in Wirklichkeit. Es ist, als würde man einen Krieg im Fernsehen verfolgen. Auf dem Bildschirm sieht alles komplett zerstört aus, die Bomben haben ihre Ziele erreicht, Rauchwolken ziehen vorüber, nichts als Schutt und Asche überall. Man denkt, da unten läuft gar nichts mehr. Doch wenn man da ist, erkennt man: das Leben brummt, viele Unverletzte springen herum.
    Die junge Alleinstehende aus der Wohnung gegenüber lässt sich ihre Haare kurz schneiden und joggt jeden Tag im Morgengrauen die Schönhauser Allee auf und ab. Sie bekommt regelmäßig einen Spezialkatalog für Sportwaffen und -klamotten zugesandt, der in keinen Briefkasten passt. Die Frau fährt ein Motorrad und wird uns bestimmt beschützen, falls Außerirdische unser Haus angreifen.
    Die moderne islamische Familie direkt über uns besteht ebenfalls aus lauter Sportsfreunden und macht den meisten Krach. Was genau diese merkwürdigen Geräusche verursacht, ist immer noch ein Rätsel für uns. Im Laufe des letzten Jahres gelangte ich durch ständiges ungewolltes Zuhören zu der Überzeugung, dass sie aufeinander reiten. Am Nachmittag wird so etwas Ähnliches wie Fußball gespielt. Mit vielen Toren. Ab 20.00 Uhr ist Rennen angesagt. Eine Runde – eine Stunde. Danach werden anscheinend die Pferde ausgewechselt, und es geht wieder von vorne los. Um Mitternacht werden die Gewinner ermittelt und die Preise ausgehändigt.
    Die lässige Junggesellin im ersten Stock scheint eine Schauspielerin oder Künstlerin zu sein. Sie trägt schwarze Kleider und raucht lange dünne Zigaretten. Sie genießt ihr freies Leben und befindet sich permanent in fröhlicher Geschäftigkeit, als würde sie andauernd eine Feier oder eine Party vorbereiten, die immer wieder aufgeschoben wird. Wenn sie mir oder einem anderen auf der Treppe begegnet, macht sie gern ein bisschen Theater. Doch das Leben lässt sich nie ganz in ein Theater umwandeln, deswegen kriegt die Frau ab und zu Depressionen. Besonders wenn ihre Mutter zu Besuch kommt, eine ältere, gut aussehende Dame, die ebenfalls schwarze Kleider trägt und lange dünne Zigaretten raucht, was irgendwie rührend wirkt.
    Als der Winter richtig losging und die CDU-Spendenaffäre eskalierte, veränderte sich auch das Leben in unserem Haus rasant. Oben wurde nun viel weniger geritten, es klang eher nach einem Schachspiel. Der alte Junggeselle Hans legte sich eine gelbe Krawatte zu, wechselte die Sommerreifen an seinem Polo aus und ging auf Reisen. Die Vietnamesen trugen zu acht eine neue Waschmaschine in ihre Wohnung, und die Sportsfrau rutschte beim Joggen auf dem Glatteis aus, wobei sie sich zwei Rippen brach.

Berühmte Persönlichkeiten auf der Schönhauser Allee: Charles Bukowski
    »Gehen Sie bitte raus, wir machen zu!«, sagte der freundliche Schwarzenegger, der in den »Schönhauser Arcaden« für die Sicherheit zuständig ist. Er stand gerade vor uns, die Beine breit, die Hände hinter dem Rücken – so bildete der Mann selbst eine Arkade. Mein Freund Juri und ich liefen ohne Anstrengung zwischen seinen Beine hindurch an die frische Luft.
    Es war schon spät, wir schienen wirklich die letzten Kunden gewesen zu sein. Mehrere Stunden hatten wir in dem Kaufhaus verbracht, um zu recherchieren, was man dort so alles umsonst kriegen konnte. Diese Recherche sollte unserer alten Debatte über den Kapitalismus mit menschlichem Antlitz ein Ende setzen. Wochenlang hatten wir uns deswegen gestritten. Juri meinte, im Kapitalismus bekäme man nichts umsonst, alles hätte seinen Preis, und deswegen würde auch der Zynismus als die einzig richtige Lebenseinstellung
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