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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen
Autoren: Jess Walter
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Ahnung, wer das sein kann.«
    Er geht zum Fenster und späht hinunter auf den schwachen Schimmer von Scheinwerfern in der Auffahrt. »Das ist der Bronco von Keith.« Er tritt von der Scheibe zurück. »Die Afterparty. Wahrscheinlich ist er dicht. Ich kümmere mich darum.«
    Wie ein Junge hüpft er die Treppe hinunter.
    »Wie war er heute Abend?«, fragt Debra leise, als er verschwunden ist.
    Lydia stochert in den übrig gebliebenen Zwiebeln und Pilzen auf Pats Teller herum. »Fantastisch. Man konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Aber ich bin froh, wenn das Stück endlich vorbei ist. An manchen Abenden sitzt er nach der Vorstellung da und starrt vor sich hin … ins Leere. Fünfzehn Minuten lang ist er einfach bloß am Ende. Seit ich dieses verdammte Stück fertig habe, komme ich mir vor, als würde ich dauernd die Luft anhalten.«
    »Du hältst die Luft schon viel länger an«, erwidert Debra lächelnd. »Es ist ein wunderbares Stück, Lydia. Lass einfach los und genieß es.«
    Lydia trinkt von Pats Orangensaft. »Ich weiß nicht.«
    Debra greift nach Lydias Hand. »Du hast es schreiben müssen, und er hat es spielen müssen. Ich bin so dankbar, dass ich das noch erlebt habe.«
    Lydia legt die Stirn in Falten und kämpft gegen die Tränen an. »Verdammt, Dee. Warum sagst du solche Sachen?«
    Plötzlich hören sie durch zwei Etagen Stimmen auf der Treppe. Pat und Keith, noch jemand, dann ein Poltern auf den Stufen, insgesamt fünf oder sechs Paar Füße.
    Pat taucht als Erster auf und zuckt die Achseln. »Anscheinend waren bei der Vorstellung heute Abend ein paar alte Freunde von dir, Mom. Keith hat sie hergebracht – ich hoffe, das ist in Ordnung …«
    Als Nächster tritt Keith ein. Er wirkt nicht betrunken, doch er hat seine kleine Videokamera dabei, mit der er manchmal Dinge aufzeichnet – was genau eigentlich, weiß Debra nicht. »Hi, Dee. Entschuldige bitte die späte Störung, aber diese Leute wollten dich unbedingt sehen …«
    »Schon gut, Keith.«
    Nacheinander kommen die Übrigen herauf: eine attraktive junge Frau mit roten Locken, ein dünner junger Mann mit Wuschelkopf, der definitiv betrunken ist – beide sind Debra völlig unbekannt –, dann eine merkwürdige Gestalt, ein leicht gebückter, älterer Mann im Sakko, genauso mager wie sie, der ihr seltsam vertraut und zugleich fremd ist; er hat ein merkwürdig faltenloses Gesicht – wie die computeranimierte Darstellung eines Alterungsprozesses im Rücklauf –, das Gesicht eines Jungen auf dem Hals eines alten Mannes, und schließlich ein weiterer älterer Herr in anthrazitgrauem Anzug. Dieser Mann zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich, als er sich von den anderen löst und auf die Theke zwischen der Küche und dem Wohnbereich zusteuert. Er nimmt den Filzhut ab und schaut sie mit Augen an, die so blassblau leuchten, dass sie fast durchsichtig wirken – Augen, die sich mit einer Mischung aus Wärme und Mitleid auf Dee Moray richten und sie fünfzig Jahre zurückreißen in ein anderes Leben –
    »Hallo, Dee.«
    Debras Teetasse fällt auf die Theke. »Pasquale?«
    Natürlich hat es vor vielen, vielen Jahren Zeiten gegeben, da sie dachte, sie könnte ihn irgendwann wiedersehen. An jenem letzten Tag in Italien, als sie beobachtete, wie er sich im Boot vom Hotel entfernte, hätte sie sich unmöglich vorstellen können, ihn nicht wiederzusehen. Zwar hatte es keine ausdrückliche Übereinkunft zwischen ihnen gegeben, doch dafür etwas Unausgesprochenes, den Zauber gegenseiti ger Anziehung und Vorfreude. Als ihr Alvis mitteilte, dass Pasquales Mutter gestorben sei, dass er zur Beerdigung fahre und vielleicht nicht zurückkomme, war Dee völlig benommen; warum hatte ihr Pasquale davon nichts erzählt? Und als ein Boot mit ihrem Gepäck ankam und sie von Pasquales Bitte an Alvis erfuhr, ihr bei der Rückreise nach Amerika behilflich zu sein, dachte sie, dass Pasquale vielleicht Zeit zum Nachdenken brauche. Also kehrte sie heim, um das Baby zu bekommen. Sie schickte ihm eine Postkarte in der Hoffnung, dass er vielleicht … aber sie erhielt keine Antwort. Auch danach dachte sie manchmal noch an Pasquale, aber im Lauf der Jahre immer weniger. Alvis und sie redeten davon, in den Ferien nach Italien, nach Porto Vergogna zu fahren, aber sie schafften es nie. Später, nach Alvis’ Tod und ihrem Abschluss in Pädagogik und Italienisch, überlegte sie, mit Pat hinzureisen; sie rief sogar in einem Reisebüro an, wo man ihr die Auskunft erteilte, dass es nicht nur
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