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Schöne Ruinen

Schöne Ruinen

Titel: Schöne Ruinen
Autoren: Jess Walter
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keinen Eintrag für ein Hotel zur ausreichenden Aussicht gab, sondern auch keine Spur auf der Landkarte von einem Ort namens Porto Vergogna. Ob sie vielleicht Portovenere meine?
    Zu diesem Zeitpunkt fragte sich Debra bereits, ob das Ganze – Pasquale, die Fischer, die Gemälde im Bunker, das kleine Dorf in den Klippen – nicht vielleicht Einbildung gewesen war, eine von ihren Fantasien, eine Szene aus einem Film, den sie irgendwann einmal gesehen hatte.
    Aber nein – da steht er vor ihr. Pasquale Tursi, älter natürlich, das ehemals schwarze Haar inzwischen schiefergrau, mit tiefen Furchen im Gesicht, die Haut unterm Kinn leicht erschlafft, aber immer noch mit diesen Augen. Er ist es. Er macht einen letzten Schritt, bis nur noch die Theke zwischen ihnen ist.
    In ihr regt sich die Eitelkeit einer Zweiundzwanzigjährigen, und sie wird verlegen: O Gott, sie muss ja schrecklich aussehen! Mehrere Sekunden lang stehen sie sich gegenüber, ein fußlahmer alter Mann und eine kranke alte Frau, nur einen guten Meter voneinander entfernt, doch zwischen ihnen liegt nicht bloß eine breite Granittheke, sondern ein Abgrund von fünfzig Jahren und zwei gelebten Leben. Niemand spricht. Niemand atmet.
    Schließlich bricht Dee Moray das Schweigen und lächelt ihrem alten Freund zu. »Perchè hai impiegato così tanto tempo?« Warum hast du so lang gebraucht?
    Das Lächeln ist immer noch zu groß für ihr schönes Gesicht. Doch was ihm wirklich unter die Haut geht, ist, dass sie Italienisch gelernt hat. Pasquale lächelt zurück. »Mi dispiace. Dovevo fare qualcosa di importante.« Entschuldige. Ich hatte etwas Wichtiges zu erledigen.
    Von den sechs anderen im Raum verteilten Personen hat nur einer diesen Wortwechsel verstanden: Shane Wheeler, der sich trotz der vier verzweifelt hinuntergestürzten Gläser Whiskey stark mit Pasquale identifiziert, wie es oft bei Übersetzern vorkommt. Es war ein ziemlich bewegter Tag für ihn: das Erwachen mit Claire, die Entdeckung, dass die Resonanz auf seinen Filmpitch nur ein Ablenkungsmanöver ist, der erfolglose Versuch, während der langen Reise bessere Bedingungen auszuhandeln, dann die Katharsis durch die Theateraufführung, die Identifizierung mit Pat Benders verpfuschtem Leben, die Kontaktaufnahme zu seiner Ex und die prompte Abfuhr. Nach all diesen Ereignissen und den Whiskeys kann Shane die Emotionen bei der Wiedervereinigung von Pasquale und Dee kaum ertragen. Er seufzt tief, und dieser Lufthauch reißt die anderen aus ihrer Versunkenheit …
    Aller Augen sind auf Pasquale und Dee gerichtet. Michael Deane packt Claire am Arm; sie drückt eine Hand vor den Mund; Lydia schielt unwillkürlich zu Pat, weil auch jetzt noch sofort die Sorge um ihn in ihr aufsteigt. Pat blickt von seiner Mutter zu dem freundlichen alten Herrn – hat sie ihn Pasquale genannt? Dann bemerkt er Keith, der auf dem Treppenabsatz steht mit dieser gottverdammten Kamera, die er überallhin mitschleppt, und unerklärlicherweise alles filmt. »Was machst du da?«, fährt er ihn an. »Pack die Kamera weg.« Achselzuckend nickt Keith in Michael Deanes Richtung, der ihm den Auftrag erteilt hat.
    Nun nimmt auch Debra wieder die anderen im Zimmer wahr. Ihr Blick wandert von einem erwartungsvollen Gesicht zum nächsten, bis er wieder auf den Alten mit dem merkwürdig künstlichen Kindergesicht fällt. O Gott. Den erkennt sie auch –
    »Michael Deane.«
    Er zieht die Lippen über die forschen, weißen Zähne. »Hallo, Dee.«
    Selbst heute noch packt sie das nackte Grauen, wenn sie nur seinen Namen ausspricht und aus seinem Mund den ihren hört. Natürlich hat sie im Lauf der Jahre so einiges über ihn gelesen. Sie weiß von seiner langen Karriere. Eine Zeitlang wollte sie keinen Vor- und Abspann mehr sehen, aus Angst, auf seinen Namen zu stoßen: eine Michael-Deane-Produktion.
    »Mom?« Pat macht einen Schritt auf sie zu. »Alles in Ordnung?«
    »Mir geht’s gut«, antwortet sie. Aber sie starrt Michael an, und alle Blicke folgen ihrem.
    Michael Deane spürt die allgemeine Aufmerksamkeit, und er weiß: Das hier ist jetzt sein Raum. Und der Raum ist alles. Wenn Sie in diesem Raum sind, existiert draußen nichts mehr. Die Leute, die Ihren Pitch hören, können den Raum genauso wenig verlassen –
    Michael fängt an und wendet sich mit einem charmanten Lächeln an Lydia. »Und Sie müssen die Autorin des Meisterwerks sein, das wir gerade gesehen haben.« Er streckt die Hand aus. »Wirklich, ein wunderbares Stück. So
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