Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schockstarre

Schockstarre

Titel: Schockstarre
Autoren: F Schmöe
Vom Netzwerk:
Nacht. Immer noch war kein Schnee gefallen.
    Ihre Zähne schlugen aufeinander. Ihr Mantel war durchnässt, ihre Jeans saßen an den Beinen wie angeschweißt. Das Karussell in ihrem Kopf fuhr langsamer, sie holte ein paar Mal tief Luft. Ließ den Blick schweifen, die Arme weit ausgestreckt, als tanze sie auf einem Hochseil und müsse die Balance halten. Sie sah Fabrikgebäude, trübe beleuchtet, hörte Wasser gurgeln, auf einer nahen Straße ein Auto vorüberfahren. In den Wohnhäusern auf der anderen Straßenseite brannten keine Lichter. Sie zog unwillkürlich die Beine an. Schwarz schoss ein Fluss ein paar Meter unter ihr dahin. Sie hockte auf einer Schleusenmauer, und sie kannte die Schleuse. Sie brauchte einige Minuten, in denen sie sich zusammenkauerte, um dem letzten bisschen Wärme in ihrem Körper nicht zur Flucht zu verhelfen, bevor sie die Erkenntnis zulassen konnte.
    Sie zitterte, vor Kälte und Panik. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung, wie sie hier gelandet war, auf der Schleusenmauer am Ortseingang von Gaustadt. Jemand hatte sie hierher gebracht, sie abgesetzt, in Kälte und Nässe, sich davongemacht, und niemand hatte sie bemerkt.
    Ich bin nur ein Häufchen aus dunklen Klamotten, dachte sie entsetzt.
    Ihr war klar, dass sie hätte erfrieren können, und ein Anflug von Logik sagte ihr, dass sie nicht allzu lange auf dieser Mauer sitzen konnte. Sich schüttelnd vor Kälte fragte sie sich, wo sie die Stunden zuvor verbracht hatte und mit wem. Ein grauenvoller Verdacht flackerte auf, sie drängte ihn sofort weg. Mit aller Anstrengung, wie man einen aufgeblasenen Wasserball unter Wasser drückt.
    Ein Name ploppte hoch: Henryk Pawlowicz. Doch statt einer klaren Erinnerung gab es da nur ein schwarzes, eisiges Meer, einen eigenartigen Geruch. Und Übelkeit.
    Sie tastete nach ihrem Handy, hielt es unschlüssig in der Hand. Steckte es weg und fuhr suchend mit den Fingern unter ihre linke Schulter.
    Da war keine Pistole mehr.
    Hitze schoss durch ihren Körper, gefolgt von einem Schwall Kälte.
    Kopflos schaute sie sich um. Niemand war hier. Nicht um diese Zeit und bei diesem Wetter. Nicht mal ein Hundehalter.
    Sie musste aufstehen, sich bewegen, um halbwegs warm zu werden, musste weg von dem gurgelnden Wasser, der Feuchtigkeit, musste ins Warme. Gedankenfetzen trieben vorbei. Einsamkeit fiel sie an.
    Mühevoll kämpfte sie sich hoch. Ihre steifen Gelenke protestierten. Langsam, unsicher auf den Beinen wie nach langer Bettlägerigkeit stieg sie die Stufen zur Brücke hoch, versuchte, über das Gittertor zu klettern, brauchte drei Anläufe, bis sie die Beine drübergeschwungen hatte. Hielt sich kurz am Geländer fest und lief los.
    Sie ging nicht auf dem Radweg unten am Ufer, sondern nahm den Bürgersteig an der Straße. Die Morgendämmerung machte ihr Angst. Sie hörte mehrmals Schritte hinter sich, bis sie bemerkte, dass da niemand war. Manchmal meinte sie, Atemzüge direkt neben sich wahrzunehmen. Immer wieder fuhr sie herum, prüfte, sondierte. Nichts und niemand.
    Die Übelkeit wurde schwächer. Katinka fiel in einen leichten Trab, hielt aber nicht lange durch. In ihrem Kopf richtete sich eine Schmiede ein, rasten Schläge auf Ambosse, klirrte Metall und zischte Glut. Katinka musste stehen bleiben, lehnte sich gegen einen Baum, ging weiter. Kalter Staub nieselte vom Himmel, feine, spitze Eisklümpchen, die auf die Haut stachen wie Nadeln. Sie schlang fest die Arme um ihren Oberkörper. Ich darf nicht verrückt werden.
    Als sie die dunkle Konzerthalle am gegenüberliegenden Ufer sah, fühlte sie sich erleichtert. Sie war ein gutes Stück Richtung Innenstadt vorangekommen, doch gleichzeitig schien ihr, als sei sie fremd hier, als müsse sie sich mühsam an die Straßenführung erinnern, sich den Stadtplan plastisch vorstellen. Sie überquerte taumelnd den Fluss, fühlte den Steg unter sich schwanken, schleppte sich bis zur Bushaltestelle und fiel keuchend auf einen Sitz. Wieder kam die Übelkeit hoch.
    Sie schaffte es, Toms Nummer einzutippen. Die Mailbox meldete sich. Er schlief schon. Sicher, es war Sonntag, er war gestern in die Fränkische Schweiz gefahren, die Männer hatten Karten gespielt. Daran erinnerte sie sich immerhin. Katinka hinterließ keine Nachricht.
    Bevor der Horror seine kleinen Teufel schicken konnte, stand Katinka auf, hielt sich kurz an dem Bushäuschen fest, holte Atem und ging weiter. Es war der Instinkt des Tieres, der sie führte. Sie kannte ihr Revier. Kämpfend gegen die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher