Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben
Autoren: Anne Chaplet
Vom Netzwerk:
der Mann in der Dunkelheit verschwunden war. Er horchte in die Nacht. Man hörte nichts, keines der üblichen Geräusche wie das leise Gebrabbel von Erwins Großfernseher oder das ferne Rauschen von der Bundesstraße. Kurz riß die Wolkendecke auf, und im Licht des Mondes lagen lange Schatten auf dem Schnee.
    Bremer machte sich eine Flasche von seinem besten Roten auf. Als er endlich zu Bett ging, hüllte ihn die schwarze Melancholie ein. Anne würde nicht wiederkommen. Er würde bis ans Ende seiner Tage alleinbleiben.
    Aber vielleicht hatte er auch nur ein Glas zuviel getrunken.

3
    A m nächsten Morgen blinkte die Uhr am elektrischen Backofen, und die Heizung war wieder angesprungen. Es schneite ausnahmsweise nicht. Die Nachbarn hatten sich in ihre Festungen zurückgezogen, aus denen Rauchzeichen in den blaßblauen Himmel aufstiegen. Die Meisen hingen an den Futterringen und ignorierten Nemax, der sich auf dem Pfosten neben dem Gartentor postiert hatte und so aussah, als stehe er kurz vor dem ersten Flugversuch. Bremer ging ins Haus, warf den Computer an, erledigte alle E-Mails, studierte ratlos die Kontoauszüge und machte sich an die Arbeit. Irgendwann hatte er keine Lust mehr, zog sich warm an und ging hinaus.
    Noch war es hell. Unter den Stiefeln knirschte der Schnee. Die Kälte stieg ihm in die Nase, als er den Weg hoch zum Wäldchen ging. In der Ferne standen Windräder unbewegt vor dem blassen Himmel. Auf dem Schnee sah man die Spuren von Hasen, Rehen und Krähen, aber noch immer wirkte die Landschaft wie in Unschuld gekleidet. Der Schnee deckte alles zu.
    Was man wohl finden würde, wenn es taute? Das Übliche – Bierdosen, Tempotaschentücher, Kondome, die Reste von Silvesterraketen, Kinderspielzeug, verlorene Handschuhe. Als er aus dem Wäldchen auf die Anhöhe hinaustrat, breitete sich vor ihm ein blendendweißes Tuch über die Landschaft, bis zum Horizont. Auf der anderen Seite des Tales stand ein Rehbock und schien zu ihm herüberzusehen. Zwei Krähen flatterten einem Greifvogel hinterher, noch ohne die im Frühjahr wachsende Angriffslust. Und auf der Koppel vor ihm hatten sich Maulwürfe durch die Schneedecke gewühlt und dunkle Erdhaufen ins Weiß geschaufelt.
    Es war noch immer beängstigend ruhig. Kein Hund bellte, keine Kirchenglocke läutete, kein Auto kam vorbei. Über den Häusern von Groß-Roda standen die dünnen weißen Rauchsäulen fast senkrecht. Kein Traktor heulte, kein Kind schrie. Selbst die Meisen, die in der Hecke mit den Schlehen und Wildrosen hausten und lärmend aufstiegen, wenn man sich näherte, schienen eine Schweigeminute eingelegt zu haben. Und dann erklang die Feuerwehrsirene von Klein-Roda. Es war ein ferner, fast sehnsuchtsvoller Ton, in den sich die Sirene von Heckbach hineinschmiegte. Und jetzt schloß sich die von Ottersbrunn an. Bremer zählte mit. Nein, es wurde weder zur Übung gerufen noch zum gemeinsamen Besäufnis. Es war ernst.
    Er kehrte um. Vielleicht brannte es – womöglich gar in Klein-Roda. Erwins Bruchbude stand auf der Liste der gefährdeten Bauwerke ganz oben. Oder es hatte einen Unfall gegeben. Er ging schneller.
    Als er in den Feldweg nach Klein-Roda einbog, sah er sie auf der Straße stehen, die Nachbarn. Die Männer in leuchtend orangefarbenen Jacken wirkten verlegen, jeder hatte eine junge Frau neben sich, die auf ihn einredete. Nur Jens stand allein, etwas abseits. Der Briefträger schien immer dazusein, wenn was los war, als ob er eine Antenne dafür hätte.
    Marianne winkte Bremer an ihre Seite. »Tamara«, flüsterte sie. »Sie ist seit gestern abend nicht zu Hause gewesen.«
    Bremer kannte Tamara. Alle kannten Tamara, ein verzogenes Balg aus dem Nachbarort, die Tochter einer Cousine von Marianne. Tamara war oft bei ihr zu Besuch, wenn die Eltern gerade etwas anderes vorhatten. Tamara mit den langen seidigen Haaren, die sie mit gekonntem Kopfschwung hinter sich warf, wenn sie auf der Dorfstraße aufreizend langsam hin und herschlenderte. Selbst Gottfried ließ sich noch in Verlegenheit bringen von so viel zur Schau gestellter Jungmädchenschönheit.
    »Sie ist doch erst dreizehn«, hatte Marianne im letzten Herbst gesagt, als Christine mit hektischen roten Flecken im Gesicht angekommen war und die Kleine beschuldigte, hinter ihrem Mann herzusein.
    »Aber frühreif wie sechzehn«, hatte Gottfried gebrummelt.
    Marianne verteidigte Tamara wie eine Mutterhenne. Nur, daß die Kleine kaum etwas von dem anrührte, was sie morgens, mittags und abends
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher