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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben
Autoren: Anne Chaplet
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Ihr Besuch überraschte ihn nicht. Er war in den letzten Jahren vom Stadtflüchtling, den man mit leisem Argwohn betrachtete, zum guten Onkel des Dorfes geworden; der, den man fragt, wenn man die Antwort der anderen fürchtet. Als sie ihren schon sanft gerundeten Bauch durch die Tür geschoben hatte, sah er hinter ihr Nicole, Daumen im Mund, die nach Nemax Ausschau hielt.
    Kathrinchen brauchte einen großen Milchkaffee, einen Lebkuchen und drei Anläufe, bis sie endlich mit dem rausrückte, was sie beschäftigte.
    »Die spinnen alle. Die spinnen.«
    Paul goß Kaffee nach.
    »Die sind nicht ganz dicht.«
    Kathrinchen schüttete Milch in den Kaffee und schaufelte zwei Löffel Zucker hinein. »Die kennen ihn doch gar nicht. Keine Ahnung haben sie! Mir hat Dr. Regler damals geholfen. Er würde niemals zulassen …« Sie schüttelte den Kopf.
    Paul Bremer griff nach Nemax, der vor der zupackenden Zärtlichkeit des Kindes aufs Küchenbüfett geflüchtet war. Er erinnerte sich, daß Kathrinchen damals zur Entbindung ins eine gute Stunde entfernte Krankenhaus von Feldern geschickt worden war, nachdem der Feldwaldundwiesenarzt aus Bad Moosbach ihr eine Abtreibung nahegelegt hatte.
    Sie wußte nicht, was sie glauben sollte. Er auch nicht.
    Er kannte Thomas Regler nur flüchtig, meist kam dessen Frau allein zu dem kleinen Haus hinter dem Friedhof, das sie sich liebevoll ausgebaut hatte. Krista war eine handfeste, kluge, lebendige Frau ohne Allüren. Und ihr Mann – er erinnerte sich an ein melancholisches Gesicht, an tiefblaue Augen und einen unordentlichen Schopf dunkler Haare – wirkte ebensowenig wie ein arroganter Halbgott in Weiß.
    »Kathrinchen – wir wissen nicht, was passiert ist. Das muß alles gründlich untersucht werden. Und man kann es doch verstehen, wenn Eltern in ihrem Schmerz…« Seelendoktor Bremers heile Welt, dachte er und fand sich schrecklich altväterlich.
    »Aber das ist es ja! Ausgerechnet Sonja Ferber! Die hat das Kind doch beim kleinsten Mucks angeschrien! Oder geschlagen!« Kathrinchen war den Tränen nah. Bremer betrachtete sie liebevoll. Aus dem Mädchen mit den großen dunklen Augen würde noch lange nicht Kathrin werden. Irgendwie war das tröstlich.
    »Es wird eine Untersuchung geben, und dann wird man der Wahrheit schon näherkommen.« Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
    »Und bis dahin machen sie ihn fertig! Die dummen Gänse sagen, man soll nicht mehr hingehen zu Dr. Regler! Die Kinder wären bei so einem nicht sicher!«
    Bremer seufzte. Was immer die Mütter für Probleme mit dem Arzt haben mochten – für Kinder war er der richtige. Er erinnerte sich gut an die Sache mit dem kleinen Mädchen. Die Kleine – wie hieß sie noch? – hatte sich von ihrer Mutter losgerissen und war fröhlich quietschend auf Gottfrieds Hund zugelaufen, als ein Mountainbiker in voller Montur und mit beeindruckender Geschwindigkeit um die Ecke rauschte. Das Kind hatte die Gefahr wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen, wohl aber die entsetzten Schreie der Umstehenden. Jedenfalls war die Kleine hingefallen und hatte angefangen, entsetzlich zu brüllen. Der Regler, der das weinende Kind auf den Arm nahm und tröstete, war wie verwandelt. Das melancholische Gesicht sah plötzlich unbeschwert und fröhlich aus, und er flüsterte so lange auf die Kleine ein, bis sie zu lächeln begann und ihm an die Nase faßte.
    Offenbar mochte der Mann Kinder, vielleicht sogar mehr, als für einen Kinderarzt selbstverständlich war. Für so jemanden wäre es eine Katastrophe, wenn wirklich ein Behandlungsfehler zum Tod des Kindes geführt hätte.
    »Er hat Nicole zur Welt gebracht und jetzt… Ich sehe gar nicht ein…«
    Kathrinchen hatte die Hände um den Leib gelegt.
    Bremer lächelte erst sie an und dann ihren Bauch.
    »Die anderen haben gesagt, das sei verantwortungslos gegenüber dem Kind, wenn ich wieder zu ihm gehe!«
    Die Übermütter des Dorfes. Bremer schüttelte den Kopf und nahm Nicole auf den Schoß, damit sie Bleibeverhandlungen mit Nemax aufnehmen konnte.
    Kathrinchen rührte im Kaffee, ohne einen Schluck zu nehmen. »Ich meine – man kann doch nicht jemanden verurteilen, wenn man noch gar nicht genau weiß, was wirklich passiert ist.«
    »Traust du ihm?« Es war die einfachste Frage, die ihm einfiel.
    Sie zögerte. Dann nickte sie.
    Als Kathrinchen endlich Nicole auf den Arm nahm und ging, war es drei Uhr vorbei. Bremer aß den übriggebliebenen Lebkuchen und ging wieder an den Schreibtisch.
    Er hatte eben den
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