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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben
Autoren: Anne Chaplet
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Bremer voreilig schien. Man wußte doch noch gar nicht, ob Tamara wirklich etwas passiert war. Und wenn, dann war unklar, was.
    »Kleine Kinder umbringen. Erschlagen. Steinigen. Und dafür kassieren die ein paar mickrige Jahre Knast. Und dann werden sie wieder auf die Menschheit losgelassen. Die Schweine.«
    Tamara war kein kleines Kind, sie war ein junges Mädchen, fast schon eine junge Frau. Bremer guckte zur Seite.
    »Laß man«, flüsterte Gottfried neben ihm. »Der Jens hat so seine Geschichte.«
    Die Männer stapften vorwärts. Sie taten es für ihre Frauen. Im tiefen Schnee für sie frieren war das mindeste, was sich gehörte. Bremer sandte einen zarten Gedanken an Anne. Männer, dachte er mit einem Anflug von Rührung. Männer sind so.
    Nach Stunden kehrten sie zurück. Bremer war durchnäßt und verfroren und müde und unendlich dankbar für das bißchen Glut im Kamin. Als das Feuer wieder brannte, lehnte er sich in die Sofakissen und starrte in die Flammen.
    Natürlich hatten sie Tamara nicht gefunden.

4
    B remer hatte ruhig und traumlos geschlafen und wurde erst von der Sonne geweckt, die durch die dünnen Gardinen vor dem Schlafzimmerfenster drang. Er räkelte sich noch eine Weile im Bett, bevor er aufstand, um zum Briefkasten zu gehen. Katzenfährten durchkreuzten die Schneedecke im Garten, und unter den Meisenringen lagen Körnerreste. Auf der Kreuzung vor Bremers Haus war das halbe Dorf versammelt. Überwiegend die männliche Hälfte, besser gesagt.
    Er sah den Friedhofsweg hoch, dorthin, wo das Haus der Reglers lag. Keine Rauchfahne über dem Haus. Wahrscheinlich war Regler wieder nach Hause gefahren. Oder endlich zum Arzt gegangen.
    Bremer holte die Zeitung aus dem Briefkasten und lehnte sich ans Gartentor.
    »Sie ist doch noch ein Kind!« Mariannes Stimme klang abwehrend. Irgend jemand antwortete ihr, ein Mann, er konnte die Stimme nicht mit einer Person verbinden. Marianne hatte die Fäuste in die Seiten gestemmt, die blonden Locken sträubten sich auf ihrem Kopf. Unsere kampfbereite Löwin, dachte Paul. Ausgerechnet der sonst so schüchterne und seiner Sabine und den drei Kindern völlig ergebene Alexander wagte ihr jetzt zu widersprechen, leicht nach vorn gebeugt, die Hände in der Jackentasche versenkt, eine Mütze mit heruntergeklapptem Ohrenschutz auf dem Kopf.
    »Sie ist ein frühreifes, verwöhntes Balg! Und die Eltern sind nicht besser!«
    »Die Weiber rechnen immer mit dem Schlimmsten.
    Dabei weiß man doch, daß das Mädchen eine Herumtreiberin ist!« Und das mußte Sascha mit der Dieter-Bohlen-Welle sagen, der auch nicht gerade als Chorknabe galt.
    Marianne sah von einem zum anderen. »Und was war mit Vanessa? Was mit Manuela?« Das waren die Trümpfe. Die beiden Mädchen waren keine koketten Herumtreiberinnen gewesen. Aber jemand hatte sie aufgelesen, verschleppt, vergewaltigt, ermordet.
    »Das ist etwas anderes!« Alexander schien wieder geschrumpft zu sein.
    »Wie auch immer: Ich jedenfalls kann nicht bei jedem Scheiß nachts durch den Schnee waten, danach alle halbe Stunde von Sohnemann aufgeweckt werden und pünktlich um 5 Uhr ins Auto nach Frankfurt steigen! Ich mach den Zirkus nicht mehr mit!« Sogar Christines Mann Jan wagte die offene Rebellion.
    »Annamaria will, daß wir nach Frankfurt fahren, wenn mal was ist mit den Blagen – nur wegen der Zeitungsberichte über diesen Dr. Regler. Dabei ist dem Mann doch gar nichts nachzuweisen!« Annamarias Gatte wurde rot im Gesicht, während er sprach. Er redete selten.
    »Willst du künftig jeden Sonntag auf den Friedhof gehen, um deinen Sohn besuchen zu können?« fragte plötzlich eine Stimme, mit der man Tischtücher zerschneiden konnte. Christine stand hinter Jan und funkelte ihn vorwurfsvoll an.
    Keiner wagte mehr etwas zu sagen.
    »Tamara ist wieder da«, sagte Gottfried schließlich, »ihre Mutter ist beruhigt, und euch allen hat der Marsch durch die frische Luft nicht geschadet. Lieber einmal zuviel als einmal zuwenig.«
    »Wir hätten uns bis ans Ende aller Tage Vorwürfe gemacht, wenn wirklich etwas passiert wäre«, murmelte Zafer. Dazu fiel niemandem mehr etwas ein.
    Die nächsten Tage verliefen ereignislos. Tamara ließ sich vorsichtshalber nicht blicken im Dorf. Die drei Hüter der freien Straße kehrten weiterhin jeden Tag, egal, ob es schneite oder nur rieselte. Eines Tages lag eine Ansichtskarte aus Kuala Lumpur in Bremers Briefkasten. Von Anne. Von irgendeinem Weltkongreß für Weltverbesserung. Die Arbeit am Buch
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