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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben
Autoren: Anne Chaplet
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kann man gar nichts machen.«
    Bremer faßte den Spaten wieder fester. Dann nickte er.
    Das Drama hatte im Winter seinen Anfang genommen, vor acht Monaten, um genau zu sein. Und ebenso genau erinnerte sich Paul Bremer an den Tag, an dem alles begann. An einen Traum und ein Geräusch. Und an ein Gefühl.

2
    Klein-Roda, im Winter
    E r fühlte, wie ihm die Brust eng und das Atmen schwer wurde. Das Bild aus dem Traum, der ihn hatte aufschrecken lassen, war noch nicht verblaßt. Ein Zug Gefangener, graue, müde Gestalten, er mittendrin. Und dann das Geräusch – wie sie vorwärtsschlurften, im gleichen langsamen Takt. Jeder Schritt eine Qual.
    Er öffnete die Augen. Ein milchiges Licht drang durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Wieder erklang das schlurfende Geräusch. Ein Hund bellte. Das Leben nahm Umrisse an: Die Kommode, der Stuhl, der Schrank. Und dann sah er, daß Nemax es sich bequem gemacht hatte auf seinem Brustkorb und sich putzte, die Hinterpfote mit den gespreizten Zehen elegant gen Himmel gereckt.
    Er streckte sich, nahm das Katerchen in den Arm und setzte sich auf. Das schlurfende Geräusch, eigentlich mehr ein Schaben und Scharren, kam, wenn ihn nicht alles täuschte, von mindestens drei Seiten. Und ebenso wahrscheinlich wurde es von Marianne, Gottfried und Erwin verursacht, die den Schnee von der Straße schoben und zu Wällen rechts und links davon auftürmten, wie sie es seit dem Kälteeinbruch vor einer Woche jeden Morgen machten, egal, ob es nachts 50 Millimeter oder einen halben Meter geschneit hatte.
    Bremer ließ das schnurrende Tier auf seiner Schulter balancieren und ging zum Fenster. Heute waren eindeutig mehr als 50 Millimeter gefallen, die Rosenbüsche glitzerten im weißen Pelz und die Schneedecke zwischen Haustür und Gartentor lag unberührt, noch nicht einmal eine Katzenspur oder das Muster von Amselkrallen war zu sehen.
    Er kniff die Augen geblendet zusammen.
    »Paul, tu was«, hatte Marianne gestern gesagt, die kräftigen Hände um den Stiel des Schneeschiebers gelegt.
    »Bei dir ist kein Durchkommen.«
    Bremer hatte die Schultern gezuckt. Er weigerte sich, Furchen und Bahnen und Pisten in den frischen weißen Schnee zu ziehen.
    »Aber der Gehweg!« Die blonden Locken fielen ihr ins gerötete Gesicht, ihre Augen glänzten. Sie sah aus wie eine nordische Gottheit.
    »Wer bei Verstand ist, geht auf der Straße.«
    Sie stritten sich bei jedem Wintereinbruch über den richtigen Umgang mit den Naturgewalten. Sie hatte alles gern so, wie es sich gehörte. Und er haßte die schmutziggrauen Eiswälle, die zwischen Grundstücksgrenze und Bordsteinkante gerade mal schmale Pfade frei ließen, meistens eisglatt. Ihm persönlich war es egal, ob der Postbote oder der Bäcker oder der Gaslieferant auf frischgeräumten Straßen einfahren konnten. Und denen im Zweifelsfall auch.
    Nemax, der mit halb ausgefahrenen Krallen Pauls nackte Schulter knetete, sprang aufs Fensterbrett und blickte konzentriert einer Meise hinterher. Bremer zog Jeans und Pullover über und ging die Treppe hinunter, um die Zeitung zu holen.
    Als er den Riegel zurückgeschoben hatte und die Tür aufzog, mußte er die Hand vor die Augen legen. Die kräftige Februarsonne war über Willis Scheune gekrochen und zündete Lichterketten auf der weißen Fläche. Während er in die Gummistiefel stieg, setzte Nemax vorsichtig eine Pfote auf die glitzernden Kristalle und sah mit gespitzten Ohren zu, wie sie tief einsank und weißbepudert wieder auftauchte. Dann hüpfte er in Bocksprüngen über die Schneedecke und war mit einem Satz auf dem Pfosten am Gartentor, wo er ein Bein nach dem anderen streckte und sorgfältig ausschüttelte.
    Bevor Bremer am Gartentor angelangt war, verstummte das Geräusch der Schneeschieber. Auf der Kreuzung vor ihm, dort, wo der Friedhofsweg von der Hauptstraße abzweigte und leicht anstieg, standen Marianne, Gottfried und Erwin, die eine links, der andere geradeaus, der dritte rechts, alle drei das Kinn auf die Hände gestützt, die sie um den Stiel der Schneeschippe gelegt hatten. Wie die Hüter des Schatzes, dachte Bremer.
    Im Blickfeld der drei regungslosen Figuren, mitten auf der Kreuzung, stand der Stolz des Dorfes: seine fruchtbaren Frauen und ihr Nachwuchs, letzterer in einem Fuhrpark, der vom antiken Korbwägelchen bis zum neuesten Leichtmetallgefährt alle Kinderwagenmodelle versammelte, die gut und teuer oder gerade angesagt waren.
    »Das darf doch wohl nicht wahr sein!« sagte Christine laut. Ihre
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