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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben
Autoren: Anne Chaplet
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Bremer sah aus dem Fenster. Auch die Straßenlampen waren aus. Zu seiner Verblüffung verspürte er eine kindliche Freude über die ungewohnte Dunkelheit. Lange würde er sie nicht genießen können, das Licht mußte jede Minute wieder angehen.
    Aber es tat sich nichts. Schließlich griff er zu den Streichhölzern neben der Kerze auf dem Küchentisch und zündete sie an. Und als ob er, je länger der Ausnahmezustand anhielt, desto kindischer würde, bekam er eine Gänsehaut, als es unter dem Küchentisch grollte.
    Dabei kannte er das Geräusch, obzwar er noch vor Monaten keiner Katze von der Statur des Katers Nemax einen solchen tiefen, markerschütternden Laut zugetraut hätte. Er hob die Kerze. Nemax trabte herbei, mit erhobenem Haupt und gestrecktem Schweif, im Maul ein dunkles Etwas.
    Ihm ging der Anblick ans Herz. Das Raubtier mußte Giordano, die Hausmaus, erwischt haben. Die anderen Mäuse waren sicher, sie lebten draußen, tief unter dem Schnee versteckt. Nur Giordano hatte sich für den Winter etwas besonders Cleveres ausgedacht. Er hauste in der Küche, hinter dem Kühlschrank. Und nun hatte der dumme Kerl sich herausgetraut, hatte sich womöglich am Katzenfutter vergriffen, hatte den Mörder mit den Samtpfoten nicht kommen gehört.
    Nemax ließ das Fellbündel fallen und schob es mit der Pfote hin und her. Giordano blieb still. Gut so, Kleiner, dachte Bremer. Aber dann vergaß die Maus alle Umsicht und lief hakenschlagend Richtung Haustür. Nemax hatte sie in Sekundenschnelle wieder am Genick – und knurrte wie ein Kettenhund.
    Das Spiel begann von neuem. Mach ein Ende, du kleines Raubtier, dachte Bremer und versuchte, das Knurren der Katze und das Quieken der Maus zu ignorieren. Bis er es nicht mehr aushielt. Nemax protestierte, fauchte sogar, als Bremer nach der Maus griff, aber er mußte sie gehen lassen. Der kleine pelzige Körper wand sich in Bremers Händen, während er hinaus und zum Schuppen lief. Dort ließ er das Tierchen frei.
    Als er zurückkam ins Haus und seine nassen Socken auszog, spürte er einen Schmerz am Daumenballen. Giordano der Kämpfer hatte ihn gebissen. Seinen Retter. Bremer goß sich den mickrigen Rest aus der Schnapsflasche ins Glas, desinfizierte die Stelle und war fünf Minuten lang gründlich gerührt.
    Vielleicht war das der Grund, warum er das Geräusch nicht hörte. Erst, als etwas gegen die Eingangstür polterte, sprang er auf.
    Er kam sich vor wie der mißtrauische Wirt im mittelalterlichen Gasthof zum Alten Bock, als er mit hocherhobenem Kerzenleuchter die Tür öffnete. Draußen stand Thomas Regler, das melancholische Gesicht unter dem dunklen Haarschopf weiß, die beiden Hände hochgehalten, als wolle er sich der bewaffneten Übermacht ergeben.
    »Ich schieße nicht«, sagte Bremer vorsichtshalber. Regler lächelte nicht. »Ich brauche Hilfe«, sagte er.
    Das war nicht zu übersehen. Die rechte Hand war verbunden, weiß konnte man den Verband nicht mehr nennen. Und die linke Hand – Bremer schluckte. Das sah übel aus. Er hielt die Tür auf.
    Bremer hatte Thomas Regler noch nie so gesehen.
    Der Arzt sah völlig entgeistert aus. Wie ein Kind saß er in Bremers Küche und hielt ihm die Hand hin. Gottlob war in der Hausapotheke noch alles Nötige vorhanden für einen provisorischen Verband.
    »Sie sollten zum Arzt gehen.«
    Regler schaute ihn traumverloren an.
    »Ins Krankenhaus.«
    Regler drehte den Kopf zum Fenster. Es schneite. Es schneite in dicken Flocken und ohne Pause. »Ein Gutes hat das alles«, sagte er schließlich. Er klang wie einer, der sich wundert über das Leben und seine Schachzüge. »Ich werde so bald nicht mehr operieren können. Kein Grund mehr zu Panik.« Und dann lachte er. »Wie hat mein Pathologieprofessor immer gesagt? ›Und wenn du noch soviel chirurgst, es kommt der Tag, an dem du murkst.‹«
    Haben Sie denn gemurkst, wollte Bremer fragen. Was ist geschehen, während der kleine David auf dem Operationstisch lag? Aber Regler war schon aufgestanden. Er brachte ihn zur Haustür.
    »Sie werden doch nicht mehr fahren?« Natürlich nicht. Er würde zum Haus gehen, dem kleinen Haus hinter dem Friedhof, dem Haus seiner Frau.
    »Können Sie heizen? Haben Sie etwas zu essen?« Regler hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.
    »Ist Krista da? Kann sie nicht…«
    Regler drehte sich um. Seine Augen schienen noch dunkler geworden zu sein, er preßte die Lippen zusammen. »Krista?« flüsterte er. »Krista?«
    Bremer starrte ihm hinterher, bis
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