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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben
Autoren: Anne Chaplet
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nicht dem Haarschnitt, sondern irgendeiner Chaostheorie zu folgen schienen. »Dr. Thomas Regler« war auf die Brusttasche des Kittels gestickt. Damals, als er hier anfing, hatte er immer, wenn er den Schriftzug las, dieses Ziehen in der Brustgegend gespürt. Mußte wohl Rührung gewesen sein. An diesem Morgen saß das Ziehen in der Magengegend und ging in ein heftiges Brennen über, als er im Spiegel etwas auf dem Schreibtisch liegen sah. Er drehte sich zögernd um. Jemand hatte ihm eine Zeitung auf den Tisch gelegt, aufgeschlagen. Mit ein paar Schritten war er beim Schreibtisch. Das Bild. Die Schlagzeile. Damit war zu rechnen gewesen. Dennoch erwischte es ihn wie ein Schlag auf den Solar plexus.
    »Könnte der kleine David noch leben?«
    In hilfloser Wut hatte er das Blatt von der Platte gewischt. Dabei konnte er es den Journalisten noch nicht einmal verdenken. Der Tod David Ferbers gehörte zum Schlimmsten, was sich ein Kinderarzt vorzustellen vermochte. Das Unglück war keineswegs unabänderlich gewesen – aber er wußte auch heute noch nicht zu sagen, wie man den Tod des Kindes hätte verhindern können. Dem Jungen wurde der Blinddarm entfernt, eine Routineoperation, alles verlief normal. Und plötzlich lag der Kleine im Koma.
    Ich habe getan, was ich konnte, dachte er. Wir haben getan, was wir konnten. Niemand hatte Anlaß, mit einem allergischen Schock zu rechnen. Vielleicht – wenn Zorko früher reagiert hätte? Er verachtete sich für den Gedanken, kaum war er gedacht. Wie könnte die mögliche Mitschuld eines anderen ihn jemals entlasten? Er war der operierende Arzt gewesen und der Narkosearzt sein Untergebener. Er trug die Verantwortung.
    Wir haben getan, was wir konnten. Wie oft er das in diesen Tagen und Wochen wiederholt hatte. Er sah Sonja Ferber vor sich, das breite, blasse Gesicht unter den matten Haaren, die Augen rot geschwollen. »Mein Kind ist tot! Und Sie tun, als ob… als ob…«
    Was sagt man einer trauernden Mutter? Mir geht es auch ziemlich dreckig, weil ich mir lange vor dem ärztlichen Eid geschworen habe, niemals zuzulassen, daß einem Kind etwas passiert, wenn ich es irgend verhindern kann?
    Er hatte auf sie eingeredet mit Engelsgeduld und Engelszungen. Davids Tod war ein bedauerliches Unglück, schrecklich, aber nicht abzuwenden. Fast hätte er sogar sich selbst endlich überzeugt. Dann stand Berti Ferber in der Tür, hochrot im Gesicht. »Lassen Sie meine Frau in Ruhe!« Mit ein paar Schritten war er neben ihr, seine Finger schienen sich in den Oberarm der Frau zu graben. Thomas war zurückgewichen.
    Ferber war aggressiv und betrunken gewesen. Und diesen Mann hatte die Trauer offenbar unempfänglich gemacht für irgendeinen Zweifel – gar noch an sich selbst. Berti Ferber kannte kein bedauerliches Unglück, keine Verstrickung ungünstiger Umstände, keinen folgenschweren Zufall, kein Schicksal. Der Mann wußte sofort, wer schuld war am Tod seines Sohnes. Die pädiatrische Abteilung des Heiliggeistkrankenhauses und Oberarzt Dr. Thomas Regler.
    Alle, die man auf Schadensersatz verklagen kann, dachte Thomas bitter.
    Damals hatte er Verständnis für Berti Ferber gehabt – was sagt und tut ein Vater nicht alles, dessen Kind tot ist? Und wer war er,Thomas Regler, daß er einen Fehler würde ganz und gar ausschließen können?
    Aber heute glaubte er zu wissen, daß Ferber zu den Leuten gehörte, die das Leben grundsätzlich ungerecht finden und die Schuld dafür immer bei anderen suchen. Berti Ferber hatte die Presse alarmiert, Anwälte für eine Klage mobilisiert. Wahrscheinlich lebte er mittlerweile von den Spendengeldern, für die man ihm ein Konto eingerichtet hatte.
    Am Dienstag vor einer Woche, am Tag, an dem das Leben aus den Fugen geriet, hatte er noch gedacht: Laß Berti Ferber seine Trauer auf seine Weise verarbeiten. Und solange die Abteilung hinter dir steht…
    Aber wer hatte die Zeitung auf den Tisch gelegt?
    Im Hinausgehen war sein Blick zu den beiden Kunstdrucken an der Wand gegangen, die Schwester Ayse dort hingehängt hatte. Er hatte die Bilder noch nie gemocht, sie zeigten zwei Kinder mit buntbemalten Clownsgesichtern, das eine zog die Mundwinkel hoch zu einem störrischen Grinsen, das andere ließ sie mit übertriebenem Mißmut hängen. An jenem Tag kamen sie ihm wie boshafte Racheengel vor.
    Als er auf den Flur trat, fuhren Ayse, Schwester Annett und Schwester May auseinander und lächelten verlegen. Er lächelte zurück, obwohl ihm nicht danach zumute war, und ging
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