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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben
Autoren: Anne Chaplet
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Und so ging es den Rest der Strecke weiter. Im Radio las eine gutgelaunte weibliche Stimme minutenlang Staumeldungen vor. Er hatte kaum hingehört. Seine Hand tat weh. Nur der Gedanke, daß er sich so bald eine Operation nicht würde zutrauen dürfen, tröstete ihn.
    Wer nichts macht, macht auch nichts falsch.
    Auf der Bundesstraße fuhren die Autos im Schrittempo. Thomas lenkte sich ab mit dem Gedanken an ein warmes, hellerleuchtetes Wohnzimmer, an ein Glas Malt-Whisky und ein Zigarillo. Und an Krista.
    Als er endlich in den Eulenweg eingebogen war, kam es ihm so dunkel vor wie früh im Morgengrauen. Der Nachbar hatte den Schnee zur Seite geschoben und zu einem grauweißen Wall aufgeschichtet – bis direkt vors Gartentor der Reglers.
    Thomas fühlte beim bloßen Gedanken daran ohnmächtigen Zorn in sich aufsteigen. »Lieber Herr Langer, wir wohnen hier«, hatte er dem alten Herrn noch am Tag zuvor gesagt. »Sie können doch nicht unser Haus verbarrikadieren!«
    »Bei Ihnen ist doch nie jemand zu Hause! Und Sie könnten auch mal…«
    Schneeschippen. Die Straße kehren. Die Hecke schneiden. Die Mülleimer von der Straße räumen. Das Auto in die Garage fahren. Die Vorhänge zuziehen.
    »Ob und wann wir zu Hause sind, geht Sie überhaupt nichts an!« Thomas war laut geworden. Der liebe Nachbar hatte fein gelächelt und ihm den Rücken zugekehrt. Was der wohl der Polizei erzählt hatte? Die Wahrheit? Denn es stimmte ja. Wann war schon jemand zu Hause? Thomas nicht. Und Krista auch nicht.
    Die kalte Nässe war ihm in die Schuhe gekrochen, während er sich den Weg zum Haus bahnte. Der Schnee bedeckte den Gartenweg, verhüllte die Büsche, hatte dem Briefkasten eine Kappe aufgesetzt. Das Haus wirkte so wie Stunden zuvor – unbelebt.
    »Krista?« Er lief die Treppe hoch und öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Sie war nicht da, der Raum roch ungelüftet. War sie in der Nacht überhaupt zu Hause gewesen? Als er die Treppe wieder hinunterging, langsamer diesmal, sah er die Spuren seiner nassen Schuhe auf dem Treppenläufer und auf dem Parkett. Wie egal ihm das plötzlich war.
    Er griff sich den Stapel Briefe vom Flurtisch und ging wieder in die Küche. Im Kühlschrank lag eine letzte Flasche Bier. Er drehte die Heizung hoch, setzte sich an den Küchentisch, goß sich ein und blätterte durch die Post. Die Telefonrechnung. Der Bittbrief einer karitativen Organisation. Die Mahnung vom Schornsteinfeger. Nachricht von seinem alten Kollegen Becker, die er erst jetzt bewußt wahrnahm, obwohl er den Briefumschlag schon gestern aufgemacht haben mußte. Er hatte sich zurückgelehnt und einen tiefen Zug aus dem Bierglas genommen.
    Krista, wo bist du? Er war drauf und dran gewesen, nach ihr zu rufen. Komm her. Sei bei mir.
    Und dann hatte er sich vor seinem Selbstmitleid in Wut geflüchtet. Warum war sie eigentlich nicht da, wenn er sie brauchte? Was war wieder einmal wichtiger? Mitgliedsbeiträge einsammeln für die Freiwillige Feuerwehr? In der Buchhandlung aushelfen, sich mit anderen gebildeten Damen über die neuesten Bestseller austauschen? Hatte sie wieder jemand dazu überredet, eine Lesung zu organisieren oder einen Gesangsabend? Eine Benefizveranstaltung für die Diakonie oder eine andere würdige Organisation?
    Immer engagiert, das ist Krista Regler. Und dann kommt ihr nichtsnutziger Ehemann auch noch verfrüht nach Hause und beklagt sich darüber.
    In hilfloser Frustration hatte er die verbundene rechte Hand auf die Tischplatte fallen lassen. Der Schmerz fuhr ihm durch alle Nervenfasern. Nur mühsam kämpfte er die Übelkeit nieder. Er kippte das Bier hinunter, holte die Flasche Balvenie vom Regal und schenkte sich einen Whisky ein.
    Es gab keinen Grund für seinen Zorn. Krista konnte nicht wissen, daß er schon so früh nach Hause kommen würde. Und daß er keine Ahnung hatte, wo sie sein könnte, lag nicht an ihr. Er interessierte sich selten für ihre Aktivitäten. Wenn er für den Nachtdienst eingeteilt war, sahen sie einander oft tagelang nicht. Und manchmal vergaß er sogar, daß sie hatte verreisen wollen – zu ihrer Mutter. Oder…
    Oder – sie war ins Häuschen gefahren, in das kleine Bauernhaus auf dem Land, das sie sich in den letzten beiden Jahren hergerichtet hatte. Und um das sie sich liebevoller kümmert als um unser Haus hier, hatte er gedacht – angesichts der vertrockneten Primeln auf dem Tisch und der Kaffeeflecken an der Wand neben dem Ausguß.
    Aber was ging das die Polizei an? Nichts. Und erst
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