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Schneesterben

Schneesterben

Titel: Schneesterben
Autoren: Anne Chaplet
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Enttäuschung: Wenn sie den Strom abgeschaltet hatte, war sie nicht da. Und er wußte noch nicht einmal, wo der Sicherungskasten war – nur, daß im Wohnzimmer, vor dem Kamin, immer Streichhölzer lagen, daneben eine Kerze. Er tastete sich hinüber, fand beides am vermuteten Ort, zündete die Kerze an und lauschte ins Haus.
    Krista?
    Erst als er alle Räume durchschritten hatte, gab er widerwillig zu, was er längst spürte. Hier war niemand, er war allein. Keine Ahnung, wie lange er am Küchentisch gesessen und gewartet hatte, während die Kälte in ihm hochkroch. Hier war schon länger niemand mehr gewesen. Aber warum war die Haustür nicht abgeschlossen?
    Und dann merkte er, daß er ein dreimal gefaltetes Stück Papier zwischen den Händen drehte, das auf dem Tisch gelegen hatte. Er faltete es auf und strich es im zitternden Kerzenlicht glatt. Es schien sich um einen Brief zu handeln. Um einen handschriftlichen Brief. Erst nach einer Weile fiel ihm auf, wie ungewöhnlich das war. Alte Leute schrieben mit der Hand. Verliebte.
    Als er fertiggelesen hatte, fühlte er sich so wie jetzt – leer. Und alt.
    Krista. Warum, Krista.
    Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Mit der Kerze in der Hand war er aus der Küchentür hinausgegangen in den Schuppen, in dem das Brennholz lag. Wie lange er sich mit dem Beil abreagiert hatte? Keine Ahnung. Erst als ein dicker Holzklotz ihm fast die linke Hand zerschmettert hätte, war er aufgewacht aus der Trance.
    Reden Sie mit dem Nachbarn, Herr Kommissar. Fragen Sie Paul Bremer. Der hat mir die Hand verbunden. Im Dunkeln. Die Elektrizität war ausgefallen.
    Sie haben Ihre Frau seit diesem Abend nicht mehr gesehen? Und nicht nach ihr gesucht? Die Polizei angerufen, die Krankenhäuser abtelefoniert?
    Er sah immer noch Atilla Gümüs’ ratloses Gesicht vor sich, hörte ihn fragen, fragen, fragen. Aber was sollte er ihm sagen? Wenn Sie wüßten, Herr Kommissar?
    Wenn Sie wüßten, was in dem Brief stand. Dann wüßten Sie auch, warum ich nicht nach ihr gesucht habe. Sucht man nach seiner Frau, wenn man ein paar handfeste Anhaltspunkte dafür in der Hand hält, daß sie einen verlassen hat?
    Und können Sie mir vielleicht sagen, was man zu erwarten pflegt von einem Mann in einem solchen Fall? Was tun andere Männer, denen die Frau abhanden kommt? Die nächste Dorfkneipe aufmischen?
    Ich nicht. Ich habe mich beim Holzhacken abreagiert, nach dem Besuch beim Nachbarn die Nacht im Haus verbracht, mich am nächsten Morgen ins Auto gesetzt und bin durch die Gegend gefahren. Wo ich war? Keine Ahnung. Und das ist die Wahrheit.
    Sie nicken, Herr Kommissar. Ich weiß, was Sie denken. Das sagen sie alle, denken Sie. Und warum ich Krista nicht sofort besucht habe, als ich endlich erfuhr, daß sie im Krankenhaus liegt, fragen Sie.
    Thomas Regler ballte die Hände und preßte die Fäuste gegen die Stirn. Dann ließ er den Kopf auf den Küchentisch sinken. Er saß in letzter Zeit verdächtig oft allein an Küchentischen.
    Er wußte nicht mehr, wie oft er in den vergangenen Tagen im Krankenhaus angerufen hatte. Sie sei nicht ansprechbar, hieß es erst. Und dann verkündete eine nüchterne Männerstimme, sie wolle niemanden sehen.
    Sie will mich nicht sehen. Thomas Regler hob den Kopf und versuchte, nicht zu stöhnen vor Schmerz.
    Sag was, Krista. Was ist geschehen?
    Er mußte zu ihr hinfahren. Er würde einfach in ihr Zimmer gehen, er war schließlich Arzt. Er würde… Was würde er? Sie fragen, ob sie einen anderen hat? Thomas Regler stand auf und schüttete den kalt gewordenen Kaffee ins Waschbecken. Er hatte der Polizei nichts von dem Brief erzählt. Er würde ihnen auch morgen oder übermorgen nichts davon erzählen. Denn sie würden wiederkommen. Mit immer den gleichen Fragen, in Columbo-Manier: »Mir ist da noch was unklar.«
    Zum Beispiel: Warum ist Ihre Frau an diesem Abend mit Ihrem Auto gefahren und nicht mit ihrem eigenen? Was wollte sie im Wald bei Rottbergen? Warum saß sie auf dem Beifahrersitz, als man sie morgens fand, unterkühlt, fast schon erfroren, völlig verwirrt? Hatten Sie Streit? Warum will Ihre Frau Sie nicht sehen? Hatten Sie kürzlich einen Unfall mit Ihrem Wagen? Wo waren Sie, als es passierte?
    Als ob er ihnen nicht bereits alles erklärt hätte.
    Aber er würde es ihnen wieder und wieder erklären, sooft sie wollten. Er würde auf alle Fragen antworten. Er würde niemals darum bitten, endlich in Ruhe gelassen zu werden. Er würde nicht ungeduldig werden, nicht abweisend,
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